Kolumba
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Joachim M. Plotzek
Kunst für alle – aber mehr noch für den Einzelnen
Überlegungen zum »besucherorientierten Museum«

Vortrag gehalten auf dem vom Landschaftsverband Rheinland - Rheinisches Museumsamt am 11. bis 12. September 1995 in der Abtei Brauweiler veranstalteten Kolloquium »Das besucherorientierte Museum«

Eine der Zielvorstellungen eines »besucherorientierten Museums« könnte die Vision einer gleichsam totalen Umsorgung als optimale Situation für den Museumsbesucher suggerieren. Eine Umsorgung, die sich mit der pragmatischen Erfüllung der Besucher-Ansprüche, Erwartungen, der Wünsche und unterschiedlichen Interessen mit reicher und vielteiliger Information identifiziert. Das Aufblühen und die vielfältigen Nutzungen von technischen Informationsmöglichkeiten in Kunstmuseen und Ausstellungen sind Früchte eines solchen Bemühens, dem Besucher hilfreich und möglichst unterhaltsam zur Seite zu stehen. Die unübersehbar zahlreichen Anstrengungen, Überlegungen, Projektentwicklungen und Realisierungsmodifikationen, die immer wieder neu bei Ausstellungsvorhaben, Planungen neuer Museen sowie seit mehreren Jahrzehnten in facheigener Wissenschaftlichkeit unternommen worden sind und werden, decken sich bisweilen - gleichsam in der Balance der Vorgaben des Angebotes »Kunst« und des Ziels der Befriedigung von Wünschen - mit den Strategien des Freizeitmarketings mit der möglichst lückenlosen Betreuung etwa eines Feriengastes während eines »gebuchten« Urlaubs. Alles, oder doch das meiste, ist bereits vorgedacht (und bedacht), und der Freizeitmensch braucht nur noch das in seinen Grenzen abgesteckte und darin beruhigend-gefahrlose Ferienerlebnis zur Erfüllung seines (erforschten, also bekannten) Wohlbefindens einlösen, d.h. innerhalb der Vorgaben funktionieren. Vor dem Hintergrund solcher Bemühungen und Absichten einer freilich zugespitzt skizzierten besucherorientierten Betreuung im Museum könnte die Vorstellung und Forderung einer Situation des von Kunst umgebenen, aber allein gelassenen Besuchers außerhalb von begleitenden Informationsquellen als denkbar unbefriedigend, rückständig und naiv empfunden werden. Ein solcher Zustand wird bekanntlich ja auch in beinahe jeder größeren Ausstellung entschärft, insofern man – fast ausschließlich vor dem Betreten der eigentlichen Kunsträume – Informationsschleusen, in welcher technischen Ausführung auch immer, als vorab gedachte Einführung in das Nachfolgende einrichtet, in denen Biographisches über den Künstler in einer Retrospektive, Zeitgeschichtliches zu einer Themenausstellung und anderes mehr aufbereitet ist. Solche Stationen der Wissensvermittlung erfahren Besucher als von Fachleuten erarbeitete und somit als verbindlich akzeptierte Einstimmung und Einübung in das Kommende, als wäre das nachfolgende Erlebnis der Kunst ohne dies nicht zumutbar, ja vielleicht sogar in dem Glauben, es käme ohne das biographische Wissen oder die Kenntnis historischer Fakten erst gar nicht zum Kunsterlebnis etwa eines Bildes von Matisse oder einer gotischen Madonnenfigur. Es ist zu beobachten, daß solche Informationsräume von Besuchern gerne und dankbar genutzt werden, weil, wie wir alle wissen, der Zugang zur Kunst, je ungeübter der Betrachter ist, als schwierig oder - etwas vorschnell gerade bei ungewohnten künstlerischen Ausdrucksformen - als unmöglich empfunden wird mit der Reaktion, sich gar nicht erst darauf einzulassen und sich damit zu beschäftigen. So hält man sich in diesen Informationsräumen entsprechend lange auf. Es kommt gemäß unterschiedlicher Lesegeschwindigkeit und Ausdauer zu Stauungen im beabsichtigten Besucherfluß gerade immer dann, wenn die Informationen in Fluren, Treppenhäusern und schmalen Zugängen zu den Kunsträumen angeboten werden. Eine solche Plazierung signalisiert damit zugleich aber auch die mindere Bewertung derartiger Teilbereiche einer Ausstellung und das Dilemma einer eher Alibi-einlösenden Halbherzigkeit, die größere Räumlichkeiten im abwägenden Hin und Her von Einsichten über das Informationsbedürfnis und das als Ziel angestrebte intensive Kunsterleben nicht zugesteht. Wie aber, wenn – als pädagogische Erkenntnis – gerade der in und mit der Kunst allein gelassene Besucher die mit diesem Zustand ideale Voraussetzung für eine Begegnung mit Kunst erhält, ich betone Voraussetzung und meine einen solchen Zustand als optimale und zugleich einzig sinnvolle Ausgangssituation allen Kunsterlebens, noch bevor die erste Wortinformation ihn erreicht? Alle Wahrnehmung von Kunst beginnt mit den Sinnen. Man hört, man sieht, riecht, schmeckt und tastet, was immer gefordert ist, um ein Gegenüber im ersten Begegnen in sinnenhafter Erkenntnis zu erfassen. Sehen aber, sagt Paul Valèry, »Sehen heißt, den Namen einer Sache, die man sieht, vergessen«. Ein unvoreingenommenes, gleichsam ausschließliches Sehen ist hier gemeint, ein Sehen vor der Begrifflichkeit, vor der Definition der Dinge, durch die sie erkannt und festgelegt werden, eine intuitive, »vorintellektuelle« Wahrnehmung mit der Wachheit und Spontaneität der Sinne, bevor sich die Ratio mit Fragen nach Bedeutung und Inhalt, mit Erkundungen des eigenen Wissens und Erinnerns meldet. Ein wahrnehmendes Erleben im Freiraum der Sinne als Voraussetzung und zugleich einzig sinnstiftender Ausgangspunkt einer Begegnung mit Kunst.- Und weiter noch: Gerade an dieser Stelle ist kein Platz für Informationen gleich welcher Art, resultierend aus der prinzipiellen Erfahrung der unüberbrückbaren Kluft zwischen den Worten und dem, was sie benennen, zwischen der Sprachwelt und der Objektwelt, und aus der Erkenntnis, daß das Objekt und sein Name nicht zusammenzubringen sind im Sinne einer Authentizität von Anspruch und Wirklichkeit mit der dazwischen verbleibenden virulenten, interaktiven Zone, die beispielsweise der Künstler Thomas Locher als Metapher für die menschliche Natur bezeichnet hat und die längst gerade auch in der zeitgenössischen Kunst selbst reflektiertes Wissen ist. Allein in solcher Vorgabe kann sich das immer wieder von den Künstlern erhoffte und von Kunst allgemein intendierte Betroffenmachen des Betrachters in dessen Betroffenheit erfüllen - ohne die in Information und Interpretation sich verkürzende und somit kanalisierende und darin zugleich die künstlerische Intensität einschränkende sprachliche Vermittlung als pädagogisches Anliegen einer Verständlichmachung dazwischen zu schieben. Der nächste Schritt innerhalb eines hier summarisch verfolgten Kunsterlebens ist der sehr schnell und wenig kontrollierbar einsetzende, von Phantasie, Gefühlen, augenblicklichen Gestimmtheiten, von der Geschichtlichkeit des Individuums wie von dem Ambiente des Ortes abhängige Assoziationsfluß, der im Betrachten eines bestimmten Objektes in unvorhersehbarer Fülle und Qualität die sinnliche Wahrnehmung immer mehr überlagert. Mit Assoziationen fließen persönliche Erinnerungen zusammen, werden Ahnungen wach, setzt das Nachdenken ein über vergleichbar Bekanntes, über vergangene Erlebnissituationen, stellen sich Fragen ein, finden Antworten oder bleiben offen mit der Möglichkeit späteren Erkennens, werden Zusammenhänge geknüpft, in Variationen erwogen und wieder erneut im Betrachten des Ausgangsobjektes und in latenter wahrnehmender Rückbindung an dieses überprüft. »Malerei«, sagt Joseph Marioni, ein amerikanischer Vertreter der sog. radikalen Malerei, »Malerei ist ihrer Natur gemäß ein Erlebnisort der Einsamkeit«. Dies gilt für alle Kunst und ebenso für den Rezipienten, wenn man Kunst als Chance begreift, sich als Betrachter mit all seinen Möglichkeiten, eben den individuell unterschiedlichen Voraussetzungen, in einen Dialog mit ihr einzulassen. »Der Betrachter ist im Bild«, dieses inzwischen geflügelte Wort eines Rezeptionsprozesses heißt ja auch, daß da ein Erlebender in der Begrenztheit, aber auch in der Einmaligkeit seiner wahrnehmenden und intellektuellen Konstitution Teil am Bild hat, insofern er sich mit diesen seinen wahrnehmenden Fähigkeiten in den Dialog mit dem Bild einbringt und damit Wirklichkeit schafft - wofür ihm Robert Rauschenberg beispielsweise in seinem Objekt »Pilgrim« einen Stuhl bereithält mit der suggestiven Aufforderung, dort imaginär Platz zu nehmen und am Bildgeschehen teilzuhaben. Die Aufforderung richtet sich an den Einzelnen im Wissen, daß nur der Einzelne, indem er sich mit aller Bereitschaft auf das Gegenüber einläßt und in der – nicht durch andere Sichtweisen vorgeprägten – Konfrontation mit dem anderen aufgeht, befähigt wird, betroffen zu werden und jene Intensität von Kunst zu erfahren, die nur in der Unmittelbarkeit, nicht aber in definierenden Vermittlungen zu erleben ist. Eine solche Aufforderung richtet sich somit niemals an eine Gruppe als eines in dieser Formation anonym bleibenden Erlebniskörpers, der vielleicht auf intellektueller und suggestiver Ebene einheitlich informiert bzw. gelenkt werden kann, hingegen auf der Ebene der sinnlichen Wahrnehmung mit allen daraus resultierenden Erlebnissen entsprechend der Zusammensetzung seiner Individuen uneinheitlich, eben individuell reagiert. Das Sichbewußtwerden und die Akzeptanz der eigenen individuellen Geschichtlichkeit birgt das eigentliche Paradigma des Kunsterlebens jedes Einzelnen und deckt sich darin mit Voraussetzungen des Kunstschaffenden. An dieser nachbarschaftlichen Grenze berühren sich die Bedingungen des schöpferischen Künstlers mit denen des von der Weite seiner Phantasie, dem Fundus seiner Erinnerungen, der Imaginationskraft seiner Vorstellungen, den Wünschen und Erwartungen, des von der Fülle seines Wissens und der Erkenntniskraft seines Intellekts bestimmten, erlebenden Betrachters, so gering oder vielfältig, begrenzt oder weit auch immer diese Fähigkeiten bei ihm ausgeprägt sind. Wenn für das in einem Museum bereitgehaltene Kunsterleben das Sicheinbringen des Einzelnen in eine Konfrontation mit dem Kunstwerk als zwingend notwendig erkannt ist, gilt es, Wege für eine Verwirklichung dieser Dialogform zu finden. Das heißt, die Aufgaben eines »besucherorientierten Museums« präzisieren sich - entgegen der eingangs simulierten Vorstellung einer möglichst alle Wünsche erfüllenden Betreuung - im Schaffen der Voraussetzungen für eine solche Kunstbegegnung. Was sind das für Voraussetzungen? Ich möchte sie vor dem Hintergrund eines Fallbeispiels, nämlich des Diözesanmuseums in Köln, bewußt machen und anhand dieses Beispiels die vorherigen Überlegungen in pragmatische Realisierungsmöglichkeiten überführen. Zunächst die Situation des Einzelbesuchers. In Kenntnis seiner immer wieder zu beobachtenden Verhaltensweise, sich als erstes anhand der Objektbeschriftung über das Kunstwerk zu informieren und dann – wenn überhaupt noch – eher kurz, sozusagen das im Lesen Verstandene nun noch im optischen Überprüfen bestätigend, das Werk selbst zu betrachten, im Bewußthalten dieser Verhaltensweise haben wir prinzipiell, bei Ausstellungen wie auch bei der Präsentation der eigenen Sammlung, auf jegliche Objektbeschriftung verzichtet. Zugleich aber halten wir für jeden Besucher einen Kurzführer – sowohl jeweils für Ausstellungen wie auch für die eigene Sammlung – in Form einer etwa 50 seitigen »Eintrittskarte« bereit, im Taschenformat zum Wegstecken und jederzeitigen Hervorholen geeignet, in dem Prinzipielles über Ausstellung bzw. Sammlung sowie Wichtigstes zu jedem ausgestellten Werk - über eine Numerierung leicht identifizierbar - nachlesbar ist. Ergänzend stehen Werkblätter mit ausführlicheren Texten in essayistischer Form zu einzelnen Kunstwerken zur Verfügung, die eine nachfolgende, vertiefende und erweiternde Betrachtung ergänzen. Es geht uns also um die Bereithaltung und Bewußtmachung einer bestimmten Chronologie der Kunstbetrachtung, an deren Anfang die uneingeschränkte, noch nicht durch Information vorab gelenkte Wahrnehmung von Kunst steht, die Chance also gewahrt bleibt, Entdeckungen zu machen, Neugier zu wecken und dieser mit allen Sinnen und ganzer Spontaneität nachzugehen, nicht ein genormtes, vorprogrammiertes, etwa in einer Tonführung für jeden Besucher gleich gelenktes Erlebnis zu provozieren, sondern den individuellen Vorgaben des jeweiligen Besuchers freie Entfaltungsmöglichkeiten zu gewähren, damit er durch sein Sicheinbringen zu einer wirklichen Erfahrung, zu einem eigenen Erlebnis, zu einem Betroffenwerden als Beginn einer jeden Auseinandersetzung mit Kunst vorstößt, und er sich nicht mit dem bloßen, sekundären Nachvollziehen dessen begnügt, was sein Verstand an Informationen aufgenommen hat, um diese, in einem imitierenden Akt der Aneignung, vor einem Bild anzuwenden. Unsere Erfahrung in dieser Hinsicht ist folgende. Die Situation der unkommentiert ausgestellten Kunst bewirkt zum einen Irritation, Verunsicherung des ungeübten Museumsbesuchers, woraus zugleich die indirekte Bestätigung resultiert, daß die Objektbeschriftung ihm beruhigendes Wissen vermittelt, noch bevor die Auseinandersetzung mit dem Kunstwerk begonnen hat. Dabei ist die Verunsicherung, das Sich-nicht-sicher-Sein eine denkbar geeignete Voraussetzung für eine Beschäftigung mit etwas Ungewohntem oder Fremden, weil es gleichsam ein stimulierendes Ferment für eine vielfältig offene Befragung sein kann. Voraussetzung hierfür aber ist, daß die Irritation des Besuchers, der sich nicht bei der Hand genommen weiß und sich auf sich verwiesen allein gelassen fühlt, nicht zu einer Willensblockade führt, enthält doch eine solche Situation sogar nach gegenwärtig gängigem Erlebnisverständnis im Abenteuer des Unerwarteten und des Risikos eigentlich eine erstrebenswerte Qualität. Die ersten Reaktionen auf die ungewohnte Begegnungsart mit Kunst, so haben wir in den vergangenen Jahren im Diözesanmuseum beobachtet, können Enttäuschung, Unwillen und Abwendung, also fehlende Beschäftigungsbereitschaft sein und können sich, je ungewohnter und fremder, also »unverständlicher« ein Kunstwerk sich dem Betrachter darbietet – und in einem solchen Fall hilft dann auch eine Objektbeschriftung nicht, die beispielsweise einen ihm unbekannten Künstler und die Mitteilung »o.T.« nennt, – in Verärgerung, Empörung bis hin, wie wir alle wissen, in Aggression gegen die Kunst entladen - auch dies eine Spielart von unmittelbarer Betroffenheit -, womit sich anläßlich der Kunstbetrachtung eine vergleichbare Situation mit dem alltäglichen Prozeß zwischenmenschlicher Beziehungen in Konfrontation mit dem Ungewohnten und Fremden ereignet. Die zahlreich neu gegründeten Kindermuseen gerade in sozial schwach strukturierten Stadtlandschaften, vorrangig in den angelsächsischen Ländern, versuchen bekanntlich mit viel Erfolg die vielfältigen Aggressionsmechanismen bereits bei Kindern und Jugendlichen im Umgang mit Kunst bewußt zu machen und Wege für deren Überwindung zu erarbeiten - ein besonderer und lohnender Aspekt der Besucherorientiertheit von Museen. Die »begleitende« Information, in der eigenen Jackentasche mit der jederzeit möglichen Befragung des zunächst entmutigten Besuchers, was denn dazu andere, z.B. fachliche Gewährsleute, meinen, kann hier Beruhigung und Anreiz für eine neuerliche Auseinandersetzung bewirken. – Zum anderen haben die Erfahrungen auch gezeigt, daß diese Präsentationsart von geübteren oder solchen Museumsbesuchern, die bei einem zweiten Besuch bereits von ihr wissen oder von ihr über die hier sehr wirksame Mundpropaganda erfahren haben, als eine besonders gute Chance aufgegriffen wird, wirklich eigenes Erleben auch in der Begegnung mit Fremden zu erfahren und damit letztlich die eigene Identität zu erweitern. Ein »besucherorientiertes Museum« hätte hier also als Voraussetzung für eine Kunstbegegnung dem potentiell gewillten Besucher nahe zu bringen, daß sein Erlebnis im Museum um so intensiver, bereichender, letztendlich beglückender ist, wenn er Geduld mitbringt, Bereitschaft zu einer Begegnung mit Unbekanntem, ebenso Mut, sich mit all seinen Unzulänglichkeiten auf ein Gegenüber einzulassen und sich in eine dialogähnliche Beziehung einzubringen, wenn er Neugier wachhält und sich seiner Sinne wahrnehmend bedient, wenn er dem eigenen Sehen und seinem subjektiven Empfinden als Ausgangspunkt von Erkenntnis trauen lernt und sich der nachgebenden Akzeptanz eines suggerierten »Unmündig-Seins« in Sachen Kunst entzieht, wenn er sich auslotet in seiner Phantasie, in seinen Erinnerungen, Erfahrungen und Erwartungen, in seinem Denkvermögen, wozu ein Kunstwerk gleichsam initiierende, auch richtungsweisende Impulse geben kann, d.h. wenn er sich all jener zeitintensiven Voraussetzungen bewußt wird, die innerhalb einer von der täglich zu bewältigenden Informationsfülle und Informationsschnelligkeit pragmatisch bestimmten Lebensweise denkbar unzeitgemäß gegenläufig sind. Der Museumsbesuch, die Kunstbegegnung wäre dann ein gegensätzlich wirksames und in dieser Weise befragendes Regulativ zu den Mechanismen der gewohnten Wirklichkeit. Wie aber kann man Menschen, die in dieser Wirklichkeit funktionieren sollen, müssen oder wollen, zu einer solchen Geduld und zu den anderen genannten Eigenschaften hinführen? Künstler würden sagen, durch die Intensität der Arbeiten, von der man gepackt, nachdenklich oder betroffen gemacht wird, von ihrer Faszinationskraft, die zum Verweilen verführt, zur Beschäftigung reizt, aber auch von ihrer Radikalität, an die man aneckt, die Fragen aufwirft und eine eigene Stellungnahme provoziert, ein Sichzurechtfinden im Anderen, Gegenüber veranlaßt, d.h. im Schaffen eines geistigen wie realen Raumes, in dem dieses Sicheinlassen stattfinden kann, im Bereithalten eines Spielraumes für Wahrnehmung und Nachdenklichkeit, in dem spielerisch, also mit großer Offenheit im Fühlen und Denken ganz unterschiedliche, zunächst unkoordinierte Wahrnehmungen und Gedankengänge entstehen und sich entwickeln können und erst in einem späteren Stadium mit weiteren Informationen reflektiert werden. Bei einer solchen Vorgehensweise wird der Präsentation von Kunst größte Bedeutung beigemessen. Aufgrund der unbestreitbaren in die Gesellschaft einwirkenden Qualität von Architektur müßte die Architektur des Museums, die Beschaffenheit der einzelnen Räume hinführend zur Kunst empfunden werden, nicht aber an ihr vorbeiführend, nicht von vielen und breiten Gängen oder monotonen Raumfolgen bestimmt sein, die während des Gehens gerade noch zum flüchtigen Bemerken, nicht aber zu einem konzentrierenden Stehenbleiben als Voraussetzung eines Dialogs mit Kunst animieren. In einem solchen Raum müßte man sich wohl fühlen, nicht weil er die Atmosphäre eines Wohnzimmers hat, sondern weil die Proportion, die Lichtführung, die Wahl der Materialien für Wände, Decken und Böden, ihre Farbigkeit, weil die Bestückung mit Vitrinen, die Auswahl der Objekte, ihre Plazierung und ihre darin assoziierten Bezüge zum Verweilen einladen, weil das gebaute Ambiente voller Anregungen Neugier erweckt und zu einer Beschäftigung auf ganz individuelle, spielerische Weise mit freien, von der eigenen Situation des Betrachters bestimmten Einfällen, auch in der Wahl und Reihenfolge der vom Besucher beachteten Kunstwerke oder zu ihrer aus welchen Gründen auch immer kurzen oder langen Betrachtung führt. In einer Handschriftenausstellung mit mittelalterlichen Stundenbüchern und Psalterien 1987 im Kölner Schnütgen-Museum blieben die Besucher oft stundenlang über die Vitrinen gebeugt, um diese gut sichtbaren Cimelien in ihrer vielfältigen Ausstattung selbst zu entdecken, nicht zuletzt wohl auch deshalb, weil sie sich kaum ermüdend auf die bewußt dafür konstruierten Vitrinen auflegen konnten. Die Präsentationsweise der größten Schätze der Vatikanischen Bibliothek 1992 im Diözesanmuseum bewirkte ähnliches »Wohlbefinden«, weil, ebenfalls in bequemer Haltung, eine große Unmittelbarkeit im Erleben der kostbar illuminierten Manuskripte durch deren ermöglichte Nähe der Betrachtung erreicht wurde und zu einem immer wieder zu beobachtenden Austausch von Entdeckungen zwischen einander unbekannten Besuchern führte. Übrigens begleitete auch auf dieser Ausstellung jeden Besucher eine 50seitige Eintrittskarte zum wann immer gewünschten Gebrauch. Ich will das nicht weiter ausführen, aber schon hier wird deutlich, daß ein so verstandenes Museum in seinem Erlebnischarakter nicht ein Ort der Zerstreuung und Unterhaltung im Sinne von spektakulären Vergnügungsparks sein will, sondern vielerlei Möglichkeiten künstlerischer Setzungen und Diskurse als Sinnangebote bereithalten will; und es wäre absurd und lächerlich, die in solchen Parks geltenden und dort auch einsichtigen Unterhaltungsmaßstäbe als bereicherndes, die Frequentierung erhöhendes Stimulanz auf Kunstmuseen anzuwenden, obgleich dies bisweilen im Kulturverständnis von Kommunen ein Ziel der von der Trägerschaft erwarteten Museumsarbeit zu sein scheint. Zu den Vorgaben einer intensiven Erlebbarkeit durch Nähe und Unmittelbarkeit der Objektbegegnung und einer animierenden Lichtführung gehört im Diözesanmuseum auch eine wechselnde Dramaturgie dicht bestückter Räume, in denen z.B. zahlreiche mittelalterliche Heiligenfiguren und -bilder gleichsam die Fülle eines Heiligenhimmels, d.h. die vielfältige Heiligenverehrung jener Zeit in künstlerischen Bildfindungen suggerieren oder mit vielen unterschiedlichen Madonnenbildtypen eine Frömmigkeitsgeschichte der Marienverehrung mit all ihrem theologischen, mystischen, typologischen, endzeitorientierten, symbolischen, allegorischen, metaphorischen, der persönlichen Andacht entsprungenen Einfallsreichtum ablesbar wird, und solcher Räume, in denen ein Einzelwerk in seiner Isolierung eine auf Dauer und Intensität angelegte Begegnung provoziert oder die Bezugsetzung weniger Objekte zu einem Sicheinlassen einlädt. Daß gerade an solchen Orten des Museums zu einer Beschäftigung hinführende Voraussetzungen mit Sitzmöglichkeiten und eben einer Raumqualität, die zum Verweilen einlädt, gleichsam suggestive Vorsorge getroffen werden sollte, versteht sich von selbst. Gefordert ist hier eine Sensibilisierung des Besuchers für jene Selbstverständlichkeit und Bereitschaft, mit der er andernorts - ohne didaktische Aufbereitung - ein Konzert hört, ein Buch liest oder einen Film anschaut. Im Kölner Diözesanmuseum nutzen wir eine solche Präsentation auch für eine Konfrontation von Kunstwerken aus unterschiedlichen Epochen, um über ein kunsthistorisch orientiertes Konzept hinaus vergleichbare oder gegensätzliche künstlerische Zielsetzungen und Diskurse unabhängig von ihrer Entstehungszeit auszuloten - übrigens recht erfolgreich, was Besucherreaktionen und Nachahmungen in anderen Museen betrifft. Eine solche eher ideengeschichtlich ausgerichtete Präsentationsweise präzisiert oftmals das Bewußtmachen kunstimmanenter Eigentümlichkeiten und Qualitäten der Objekte bei aller zeitbedingten und persönlichkeitsabhängigen Andersartigkeit des im Vergleich Zusammengebrachten. Damit ist eine Erlebnisebene von Kunst erreicht, auf der Interpretation nicht über das erklärende Wort, sondern durch Kunst selbst erfahrbar wird. So ist durchaus vorstellbar, daß in eine solche Konfrontation auch etwa ein poetischer oder literarischer Text als Gegenüber einbezogen werden könnte, der dann nicht die Funktion einer Objektbeschriftung hätte, sondern eigenwertig als Kunstwerk einer anderen Gattung eine vergleichbare künstlerische Aussage sinnerhellend hinzufügt. Schließlich ereignen sich solche Konstellationen bereits in regelmäßigen Konzerten mit zum Teil neu komponierten Werken, die ausdrücklich Bezug nehmen auf Objekte bzw. die individuelle Örtlichkeit im Diözesanmuseum. Ein künstlerisches Reagieren auf Kunst als Weg der sehenden, lesenden, hörenden und darin auch für den Betrachter anregend beispielhaften Annäherung, die im übrigen auch auf dem bewußt gewählten Bauplatz für den Neubau des Museums auf Kolumba einbezogen wird, wenn bereits eingeladene Künstler auf die sichtbaren, vielfältigen archäologischen Dokumente der großen Ausgrabungszone in ihrer sich über fast 2000 Jahre erstreckenden komplexen Historizität mit ganz unterschiedlichen, auch akustischen »Eingriffen« reagieren und darin die Einmaligkeit des Ortes wie auch der Kunstwerke bewußt machen. Seit einigen Jahren wechseln wir alle drei Monate solche Konfrontationen mit neuen Befragungen, indem z.B. ein längere Zeit präsentes Objekt mit neu hinzukommenden Dingen zu anderen Sichtweisen, auch desselben Kunstwerks, anregt. Dieser Erlebnisprozeß, den wir mit dem nun schon geläufigen Titel Wiederbegegnung mit Unbekanntem in seiner nur scheinbar widersprüchlichen Komplexität bezeichnet haben, führte inzwischen zu einer erheblich wachsenden Besucherfrequenz des Museums. Die Frage »Was haben die jetzt miteinander in einen Dialog gebracht?« »Packt mich das genauso wie bei der letzten Konfrontation?« u.a.m. läßt immer mehr Menschen zu kurzen, aber häufigeren Besuchen im Sinne von aktuellen, überprüfenden Orientierungen kommen; manche kommen mit einem solchen Anliegen in der Mittagspause, wie überhaupt beobachtet werden kann, daß diese Art von Lebendigkeit und Aktualität einer Sammlung mit überschaubar vielen Veränderungen und Auswechslungen zu kurz entschlossenen und selbstverständlichen, in die tägliche Wirklichkeit integrierten Visiten führt, während diese Besuche, wenn sie offiziell und länger geplant sind, bisweilen gar nicht, zumindest aber nicht in dieser Häufigkeit ausgeführt werden. Ein entscheidender zusätzlicher Anreiz für diese Verhaltensweise ist, daß im Diözesanmuseum der Eintritt frei ist (mit Ausnahme bei großen Sonderausstellungen). Hinter einer solchen Entscheidung steckt natürlich ein Verständnis von Bildung - und auch der dafür bereitgestellten Institution - als Eigendimension der Gesellschaft, zum anderen aber auch ein so nebensächlich wirkender psychologischer Hinweis, nicht dem naheliegenden Zwang zu erliegen, besonders bei einem hohen Eintrittspreis entsprechend einem geläufigen Leistungsbegriff auch möglichst alles in einem Museum sehen zu müssen, wo es doch eigentlich auf die Intensität von Wenigem entsprechend der eigenen Erlebnis- und Aufnahmekapazität ankommt. Ein solches Verständnis von Besucherorientiertheit eines Museums, das seine Rezeptionsebene nicht zuallererst im Weitergeben von bereits erarbeitetem Wissen, sondern in der Zwiesprache eines neugierig gemachten, sich mit Geduld und Bereitschaft einbringenden Besuchers in der individuellen Auseinandersetzung mit einem ungewohnten Gegenüber anbietet, erfährt beim Besuch von Gruppen eine zusätzliche Erweiterung seiner Möglichkeiten. Im Kölner Diözesanmuseum gibt es keine Gruppenführungen, es gibt, wie nach dem zuvor Gesagten verständlich ist, überhaupt keine Führungen mit einem wie immer gearteten, menschlichen oder instrumentalisierten »Führer«, der im einseitigen Informationsfluß Kunst vermittelt und damit die fehlende Objektbeschriftung, also das Erlebnisprinzip der erst nachfolgenden Verstandesarbeit unterlaufen und wieder zurückfallen würde in das gewohnte Prinzip der Mitteilung von Erkenntnis vor der Wahrnehmung durch die noch nicht eingeweihten Besucher. Statt dessen gibt es Gespräche in diesem Museum, d.h. eine Orientierungsform, bei der jeder Teilnehmer sich mit dem, was zuvor über den Einzelnen gesagt wurde, einbringen kann. Gerade das, was traditionelle Führungen - und das gilt auch für noch so variantenreich informierende Computerterminals - charakterisiert, das Vorstellen einer Sammlung, das Hinweisen auf Meisterwerke, kunsthistorische Erklärungen und Daten von Künstlerbiographien und vieles andere, was in schriftlicher, digitaler oder sonstiger Form vermittelt werden kann, bleibt, wenn überhaupt, nebensächlicher, eher später einzulösender Bestandteil solcher Gespräche, die vielmehr von spontanen Wahrnehmungen und daraus entstehenden Fragen einzelner Teilnehmer in Gang gebracht werden und in einem vorher nicht festgelegten Verlauf die weite Peripetie von Erlebnismöglichkeiten des einzelnen Menschen ergründen. Wenn der eine Besucher z.B. in der Arbeit Spuren auf weißem Grund von Antoni Tàpies aus dem Jahre 1965 im Diözesanmuseum eine denkbar intensive Bildmetapher der um eine offene, nicht erkennbar definierte Mitte angelegten Sinnsuche erlebt, so empfindet ein anderer die kreisende Bewegung menschlicher Fußspuren innerhalb des begrenzenden Bildgevierts als eine von außen einwirkende bedrohliche Einengung, die eine Entfaltung, ein Ausweichen nicht zuläßt - zwei Erlebnissituationen eines überaus präzisen, aber zugleich auch notwendig offenen Kunstwerks durch die individuelle Persönlichkeitsstruktur zweier Besucher, die sich - wahrnehmend und sich selbst befragend - in die Auseinandersetzung mit dem ihnen unbekannten Kunstwerk einbringen (man erinnert sich: der Betrachter ist im Bild). Der »Leiter« eines solchen Gesprächs hat aufgrund seiner Gegenwart und Ansprechbarkeit die große Chance, die oben genannten Voraussetzungen für ein solches Kunsterlebnis, nämlich Geduld und Bereitschaft zum Sicheinlassen auf ein ungewohntes, ja fremdes Gegenüber mit all seinen Folgen, immer wieder zu initiieren und darin in der Tat schließlich als Kunstvermittler aktiv zu sein, d.h. nach dem Grimm'schen Wörterbuch, zwischen zwei Gegebenheiten ein verbindendes Mittelstück einzusetzen, eine Brücke der Begegnung des Betrachters und des Kunstwerks bewußt zu halten. Es würde hier zu weit führen - und wird auch nicht notwendig sein - die Dimension des inhaltlichen Sammlungskonzepts des Diözesanmuseums mit einzubringen, doch wird nachvollziehbar geworden sein, daß hier Kunst auf ihre Möglichkeiten hin ausgelotet wird, Wirklichkeit zu setzen, um vor dem Hintergrund des kirchlichen Trägers künstlerische Setzungen als visualisierte Sinnangebote, als realisierte Sichtweisen einer möglichen Wirklichkeit - denn was ist Kunst anderes? - in einem Dialog mit christlichen Vorstellungen zu befragen. Dahinter steht auch ein Verständnis von Kunst als einer »konkreten Utopie« im Sinne Ernst Blochs, also einer Möglichkeit von Kreativität, die, mit den Worten Walter Warnachs anläßlich seines Vortrags zur Gründung der von Joseph Beuys initiierten Freien internationalen Hochschule für Kreativität und interdisziplinäre Forschung e.V. auf der dokumenta 6, 1977 in Kassel, »dem Wirklichen die reale Möglichkeit... eines Handelns abgewinnt, das die geschichtlich-gesellschaftliche Bewegung hier und jetzt aufnimmt und einige Schritte weiterträgt«. Kunsterleben als Erkenntnisprozess des Anderen, nicht nur realisiert als Entwurf einer anderen vorstellbaren und möglichen Wirklichkeit, sondern zugleich auch personifiziert in der Persönlichkeit eines anderen Menschen. Dahinter steht demnach auch ein Verständnis vom Betrachter als eines wahrnehmenden, sich einbringenden, sich einmischenden, sich im weitesten Sinne politisch bewußt werdenden Individuums mit der Erfahrung »der unaufhebbaren Wirklichkeit des Anderen«, um noch einmal Walter Warnach zu zitieren, einer Erfahrung »der Zuwendung eines Anderen, der mir selbst verborgene Möglichkeiten meiner selbst gerade durch sein Anderssein in mir entbindet, aber ebenso die Erfahrung streithafter Auseinandersetzung, in der mir aufgeht, daß ich meine Freiheit nur gewinnen kann, wenn ich die Freiheit des Anderen gelten lasse, Freiheit nie nur meine Freiheit, sondern immer solidarische Freiheit ist.« Und schließlich als drittem, nach der Ortgebung der Kunst und des Betrachters, steht hinter einem solchen Verständnis der Vermittler - als einzelne Person wie als museale Institution - mit der dienenden Aufgabe, zum einen der Kunst zu ihrem Recht zu verhelfen bzw. es ihr nicht nehmen zu lassen, nämlich die zu ihren existentiellen Bedingungen gehörende Qualität einer Wirklichkeitssetzung bewußt zu machen, und zum anderen dem Betrachter dies im eigentlichen Sinne des Wortes vor Augen - später auch vor den Verstand - zu führen und ihn für ein solches Kunsterleben bereit und empfänglich zu machen, damit seine Wahrnehmungsfähigkeit nicht im ausschließlichen Rezipieren vorgefertigter Verbrauchsformen, wie sie etwa die Medien im unablässigen Informations-, Unterhaltungs-, und Werbungsfluß allgegenwärtig bereithalten, verkümmert und er sich nicht mit jener minimalen Existenzbedingung begnügt, in den fraglos bleibenden, also spannungslos gewordenen täglichen Standards zu funktionieren, und er nicht unansprechbar wird für die Chance einer vielfältig möglichen Einbringung seiner selbst in eine Begegnung, damit er nicht im Sinne von Paul Virilios vom Phänomen der Geschwindigkeit dominierten Wirklichkeitsverständnis der Gegenwart im unaufhaltsamen Fluß der Schnelligkeit selbst verlorengeht. Eine Chance auch für die Gesellschaft, trotz oder gerade als Folge eines omnipräsenten, vernetzten Miteinander-in-Verbindung-Seins sich nicht zugleich in einer fortschreitend intensivierenden Singularisierung und Monadisierung zu zersplittern. So geht es letztendlich darum, da Kunst nicht Antworten gibt, sondern im Sinne von möglichen Sichtweisen Sinnangebote macht, Fragestellungen und Dialoge initiiert und Voraussetzungen für Entdeckungen schafft, daß der Einzelne auf sie mit dem Potential seiner Selbsteinbringung reagiert, daß er sensibilisiert wird, darauf zu reagieren gleichsam in einem Dialog, der ihm einen Entscheidungsfreiraum bewußt macht. Aus solchem Selbstverständnis des Museums resultiert, daß es keine Bedienungs-Institution ist für eine sich im Konsumieren verstehende Gesellschaft, sondern einen Organismus darstellt, der selbst Wünsche und Angebote als zu entdeckendes Neues erzeugt. So geht es darum, daß der Museumsbesucher Phänomene wahrzunehmen lernt und diese ihm nicht - bereits intellektuell seziert - serviert werden, Phänomene der Kunst und somit darüber hinaus der umgebenden Wirklichkeit, um sich gleichsam mit semiotischer Neugier seines Umraumes zu bemächtigen, damit ganz allgemein seine Erlebnisbereitschaft und Erlebnisfähigkeit geweckt und intensiviert wird und er sich als ein sich selbst befragender, suchender und damit in seiner Identität erzeugender Betrachter erlebt. Das besucherorientierte Engagement eines Museums muß somit diese kreative Möglichkeit der Kunst mit der erlebenden Fähigkeit des Menschen verbinden, d.h. vermittelnd bewußt machen und in jene Balance bringen, von der ich eingangs sprach.

Veröffentlicht als Heft 5 in der Reihe "wortwörtlich", Diözesanmuseum Köln, Köln 1995 (vergriffen)

© Diözesanmuseum Köln/ Kolumba/ Joachim M. Plotzek 1995
Veröffentlichung – auch auszugsweise – nur mit Quellenangabe
 
www.kolumba.de

KOLUMBA :: Texte :: Kunst für alle (1995)

Joachim M. Plotzek
Kunst für alle – aber mehr noch für den Einzelnen
Überlegungen zum »besucherorientierten Museum«

Vortrag gehalten auf dem vom Landschaftsverband Rheinland - Rheinisches Museumsamt am 11. bis 12. September 1995 in der Abtei Brauweiler veranstalteten Kolloquium »Das besucherorientierte Museum«

Eine der Zielvorstellungen eines »besucherorientierten Museums« könnte die Vision einer gleichsam totalen Umsorgung als optimale Situation für den Museumsbesucher suggerieren. Eine Umsorgung, die sich mit der pragmatischen Erfüllung der Besucher-Ansprüche, Erwartungen, der Wünsche und unterschiedlichen Interessen mit reicher und vielteiliger Information identifiziert. Das Aufblühen und die vielfältigen Nutzungen von technischen Informationsmöglichkeiten in Kunstmuseen und Ausstellungen sind Früchte eines solchen Bemühens, dem Besucher hilfreich und möglichst unterhaltsam zur Seite zu stehen. Die unübersehbar zahlreichen Anstrengungen, Überlegungen, Projektentwicklungen und Realisierungsmodifikationen, die immer wieder neu bei Ausstellungsvorhaben, Planungen neuer Museen sowie seit mehreren Jahrzehnten in facheigener Wissenschaftlichkeit unternommen worden sind und werden, decken sich bisweilen - gleichsam in der Balance der Vorgaben des Angebotes »Kunst« und des Ziels der Befriedigung von Wünschen - mit den Strategien des Freizeitmarketings mit der möglichst lückenlosen Betreuung etwa eines Feriengastes während eines »gebuchten« Urlaubs. Alles, oder doch das meiste, ist bereits vorgedacht (und bedacht), und der Freizeitmensch braucht nur noch das in seinen Grenzen abgesteckte und darin beruhigend-gefahrlose Ferienerlebnis zur Erfüllung seines (erforschten, also bekannten) Wohlbefindens einlösen, d.h. innerhalb der Vorgaben funktionieren. Vor dem Hintergrund solcher Bemühungen und Absichten einer freilich zugespitzt skizzierten besucherorientierten Betreuung im Museum könnte die Vorstellung und Forderung einer Situation des von Kunst umgebenen, aber allein gelassenen Besuchers außerhalb von begleitenden Informationsquellen als denkbar unbefriedigend, rückständig und naiv empfunden werden. Ein solcher Zustand wird bekanntlich ja auch in beinahe jeder größeren Ausstellung entschärft, insofern man – fast ausschließlich vor dem Betreten der eigentlichen Kunsträume – Informationsschleusen, in welcher technischen Ausführung auch immer, als vorab gedachte Einführung in das Nachfolgende einrichtet, in denen Biographisches über den Künstler in einer Retrospektive, Zeitgeschichtliches zu einer Themenausstellung und anderes mehr aufbereitet ist. Solche Stationen der Wissensvermittlung erfahren Besucher als von Fachleuten erarbeitete und somit als verbindlich akzeptierte Einstimmung und Einübung in das Kommende, als wäre das nachfolgende Erlebnis der Kunst ohne dies nicht zumutbar, ja vielleicht sogar in dem Glauben, es käme ohne das biographische Wissen oder die Kenntnis historischer Fakten erst gar nicht zum Kunsterlebnis etwa eines Bildes von Matisse oder einer gotischen Madonnenfigur. Es ist zu beobachten, daß solche Informationsräume von Besuchern gerne und dankbar genutzt werden, weil, wie wir alle wissen, der Zugang zur Kunst, je ungeübter der Betrachter ist, als schwierig oder - etwas vorschnell gerade bei ungewohnten künstlerischen Ausdrucksformen - als unmöglich empfunden wird mit der Reaktion, sich gar nicht erst darauf einzulassen und sich damit zu beschäftigen. So hält man sich in diesen Informationsräumen entsprechend lange auf. Es kommt gemäß unterschiedlicher Lesegeschwindigkeit und Ausdauer zu Stauungen im beabsichtigten Besucherfluß gerade immer dann, wenn die Informationen in Fluren, Treppenhäusern und schmalen Zugängen zu den Kunsträumen angeboten werden. Eine solche Plazierung signalisiert damit zugleich aber auch die mindere Bewertung derartiger Teilbereiche einer Ausstellung und das Dilemma einer eher Alibi-einlösenden Halbherzigkeit, die größere Räumlichkeiten im abwägenden Hin und Her von Einsichten über das Informationsbedürfnis und das als Ziel angestrebte intensive Kunsterleben nicht zugesteht. Wie aber, wenn – als pädagogische Erkenntnis – gerade der in und mit der Kunst allein gelassene Besucher die mit diesem Zustand ideale Voraussetzung für eine Begegnung mit Kunst erhält, ich betone Voraussetzung und meine einen solchen Zustand als optimale und zugleich einzig sinnvolle Ausgangssituation allen Kunsterlebens, noch bevor die erste Wortinformation ihn erreicht? Alle Wahrnehmung von Kunst beginnt mit den Sinnen. Man hört, man sieht, riecht, schmeckt und tastet, was immer gefordert ist, um ein Gegenüber im ersten Begegnen in sinnenhafter Erkenntnis zu erfassen. Sehen aber, sagt Paul Valèry, »Sehen heißt, den Namen einer Sache, die man sieht, vergessen«. Ein unvoreingenommenes, gleichsam ausschließliches Sehen ist hier gemeint, ein Sehen vor der Begrifflichkeit, vor der Definition der Dinge, durch die sie erkannt und festgelegt werden, eine intuitive, »vorintellektuelle« Wahrnehmung mit der Wachheit und Spontaneität der Sinne, bevor sich die Ratio mit Fragen nach Bedeutung und Inhalt, mit Erkundungen des eigenen Wissens und Erinnerns meldet. Ein wahrnehmendes Erleben im Freiraum der Sinne als Voraussetzung und zugleich einzig sinnstiftender Ausgangspunkt einer Begegnung mit Kunst.- Und weiter noch: Gerade an dieser Stelle ist kein Platz für Informationen gleich welcher Art, resultierend aus der prinzipiellen Erfahrung der unüberbrückbaren Kluft zwischen den Worten und dem, was sie benennen, zwischen der Sprachwelt und der Objektwelt, und aus der Erkenntnis, daß das Objekt und sein Name nicht zusammenzubringen sind im Sinne einer Authentizität von Anspruch und Wirklichkeit mit der dazwischen verbleibenden virulenten, interaktiven Zone, die beispielsweise der Künstler Thomas Locher als Metapher für die menschliche Natur bezeichnet hat und die längst gerade auch in der zeitgenössischen Kunst selbst reflektiertes Wissen ist. Allein in solcher Vorgabe kann sich das immer wieder von den Künstlern erhoffte und von Kunst allgemein intendierte Betroffenmachen des Betrachters in dessen Betroffenheit erfüllen - ohne die in Information und Interpretation sich verkürzende und somit kanalisierende und darin zugleich die künstlerische Intensität einschränkende sprachliche Vermittlung als pädagogisches Anliegen einer Verständlichmachung dazwischen zu schieben. Der nächste Schritt innerhalb eines hier summarisch verfolgten Kunsterlebens ist der sehr schnell und wenig kontrollierbar einsetzende, von Phantasie, Gefühlen, augenblicklichen Gestimmtheiten, von der Geschichtlichkeit des Individuums wie von dem Ambiente des Ortes abhängige Assoziationsfluß, der im Betrachten eines bestimmten Objektes in unvorhersehbarer Fülle und Qualität die sinnliche Wahrnehmung immer mehr überlagert. Mit Assoziationen fließen persönliche Erinnerungen zusammen, werden Ahnungen wach, setzt das Nachdenken ein über vergleichbar Bekanntes, über vergangene Erlebnissituationen, stellen sich Fragen ein, finden Antworten oder bleiben offen mit der Möglichkeit späteren Erkennens, werden Zusammenhänge geknüpft, in Variationen erwogen und wieder erneut im Betrachten des Ausgangsobjektes und in latenter wahrnehmender Rückbindung an dieses überprüft. »Malerei«, sagt Joseph Marioni, ein amerikanischer Vertreter der sog. radikalen Malerei, »Malerei ist ihrer Natur gemäß ein Erlebnisort der Einsamkeit«. Dies gilt für alle Kunst und ebenso für den Rezipienten, wenn man Kunst als Chance begreift, sich als Betrachter mit all seinen Möglichkeiten, eben den individuell unterschiedlichen Voraussetzungen, in einen Dialog mit ihr einzulassen. »Der Betrachter ist im Bild«, dieses inzwischen geflügelte Wort eines Rezeptionsprozesses heißt ja auch, daß da ein Erlebender in der Begrenztheit, aber auch in der Einmaligkeit seiner wahrnehmenden und intellektuellen Konstitution Teil am Bild hat, insofern er sich mit diesen seinen wahrnehmenden Fähigkeiten in den Dialog mit dem Bild einbringt und damit Wirklichkeit schafft - wofür ihm Robert Rauschenberg beispielsweise in seinem Objekt »Pilgrim« einen Stuhl bereithält mit der suggestiven Aufforderung, dort imaginär Platz zu nehmen und am Bildgeschehen teilzuhaben. Die Aufforderung richtet sich an den Einzelnen im Wissen, daß nur der Einzelne, indem er sich mit aller Bereitschaft auf das Gegenüber einläßt und in der – nicht durch andere Sichtweisen vorgeprägten – Konfrontation mit dem anderen aufgeht, befähigt wird, betroffen zu werden und jene Intensität von Kunst zu erfahren, die nur in der Unmittelbarkeit, nicht aber in definierenden Vermittlungen zu erleben ist. Eine solche Aufforderung richtet sich somit niemals an eine Gruppe als eines in dieser Formation anonym bleibenden Erlebniskörpers, der vielleicht auf intellektueller und suggestiver Ebene einheitlich informiert bzw. gelenkt werden kann, hingegen auf der Ebene der sinnlichen Wahrnehmung mit allen daraus resultierenden Erlebnissen entsprechend der Zusammensetzung seiner Individuen uneinheitlich, eben individuell reagiert. Das Sichbewußtwerden und die Akzeptanz der eigenen individuellen Geschichtlichkeit birgt das eigentliche Paradigma des Kunsterlebens jedes Einzelnen und deckt sich darin mit Voraussetzungen des Kunstschaffenden. An dieser nachbarschaftlichen Grenze berühren sich die Bedingungen des schöpferischen Künstlers mit denen des von der Weite seiner Phantasie, dem Fundus seiner Erinnerungen, der Imaginationskraft seiner Vorstellungen, den Wünschen und Erwartungen, des von der Fülle seines Wissens und der Erkenntniskraft seines Intellekts bestimmten, erlebenden Betrachters, so gering oder vielfältig, begrenzt oder weit auch immer diese Fähigkeiten bei ihm ausgeprägt sind. Wenn für das in einem Museum bereitgehaltene Kunsterleben das Sicheinbringen des Einzelnen in eine Konfrontation mit dem Kunstwerk als zwingend notwendig erkannt ist, gilt es, Wege für eine Verwirklichung dieser Dialogform zu finden. Das heißt, die Aufgaben eines »besucherorientierten Museums« präzisieren sich - entgegen der eingangs simulierten Vorstellung einer möglichst alle Wünsche erfüllenden Betreuung - im Schaffen der Voraussetzungen für eine solche Kunstbegegnung. Was sind das für Voraussetzungen? Ich möchte sie vor dem Hintergrund eines Fallbeispiels, nämlich des Diözesanmuseums in Köln, bewußt machen und anhand dieses Beispiels die vorherigen Überlegungen in pragmatische Realisierungsmöglichkeiten überführen. Zunächst die Situation des Einzelbesuchers. In Kenntnis seiner immer wieder zu beobachtenden Verhaltensweise, sich als erstes anhand der Objektbeschriftung über das Kunstwerk zu informieren und dann – wenn überhaupt noch – eher kurz, sozusagen das im Lesen Verstandene nun noch im optischen Überprüfen bestätigend, das Werk selbst zu betrachten, im Bewußthalten dieser Verhaltensweise haben wir prinzipiell, bei Ausstellungen wie auch bei der Präsentation der eigenen Sammlung, auf jegliche Objektbeschriftung verzichtet. Zugleich aber halten wir für jeden Besucher einen Kurzführer – sowohl jeweils für Ausstellungen wie auch für die eigene Sammlung – in Form einer etwa 50 seitigen »Eintrittskarte« bereit, im Taschenformat zum Wegstecken und jederzeitigen Hervorholen geeignet, in dem Prinzipielles über Ausstellung bzw. Sammlung sowie Wichtigstes zu jedem ausgestellten Werk - über eine Numerierung leicht identifizierbar - nachlesbar ist. Ergänzend stehen Werkblätter mit ausführlicheren Texten in essayistischer Form zu einzelnen Kunstwerken zur Verfügung, die eine nachfolgende, vertiefende und erweiternde Betrachtung ergänzen. Es geht uns also um die Bereithaltung und Bewußtmachung einer bestimmten Chronologie der Kunstbetrachtung, an deren Anfang die uneingeschränkte, noch nicht durch Information vorab gelenkte Wahrnehmung von Kunst steht, die Chance also gewahrt bleibt, Entdeckungen zu machen, Neugier zu wecken und dieser mit allen Sinnen und ganzer Spontaneität nachzugehen, nicht ein genormtes, vorprogrammiertes, etwa in einer Tonführung für jeden Besucher gleich gelenktes Erlebnis zu provozieren, sondern den individuellen Vorgaben des jeweiligen Besuchers freie Entfaltungsmöglichkeiten zu gewähren, damit er durch sein Sicheinbringen zu einer wirklichen Erfahrung, zu einem eigenen Erlebnis, zu einem Betroffenwerden als Beginn einer jeden Auseinandersetzung mit Kunst vorstößt, und er sich nicht mit dem bloßen, sekundären Nachvollziehen dessen begnügt, was sein Verstand an Informationen aufgenommen hat, um diese, in einem imitierenden Akt der Aneignung, vor einem Bild anzuwenden. Unsere Erfahrung in dieser Hinsicht ist folgende. Die Situation der unkommentiert ausgestellten Kunst bewirkt zum einen Irritation, Verunsicherung des ungeübten Museumsbesuchers, woraus zugleich die indirekte Bestätigung resultiert, daß die Objektbeschriftung ihm beruhigendes Wissen vermittelt, noch bevor die Auseinandersetzung mit dem Kunstwerk begonnen hat. Dabei ist die Verunsicherung, das Sich-nicht-sicher-Sein eine denkbar geeignete Voraussetzung für eine Beschäftigung mit etwas Ungewohntem oder Fremden, weil es gleichsam ein stimulierendes Ferment für eine vielfältig offene Befragung sein kann. Voraussetzung hierfür aber ist, daß die Irritation des Besuchers, der sich nicht bei der Hand genommen weiß und sich auf sich verwiesen allein gelassen fühlt, nicht zu einer Willensblockade führt, enthält doch eine solche Situation sogar nach gegenwärtig gängigem Erlebnisverständnis im Abenteuer des Unerwarteten und des Risikos eigentlich eine erstrebenswerte Qualität. Die ersten Reaktionen auf die ungewohnte Begegnungsart mit Kunst, so haben wir in den vergangenen Jahren im Diözesanmuseum beobachtet, können Enttäuschung, Unwillen und Abwendung, also fehlende Beschäftigungsbereitschaft sein und können sich, je ungewohnter und fremder, also »unverständlicher« ein Kunstwerk sich dem Betrachter darbietet – und in einem solchen Fall hilft dann auch eine Objektbeschriftung nicht, die beispielsweise einen ihm unbekannten Künstler und die Mitteilung »o.T.« nennt, – in Verärgerung, Empörung bis hin, wie wir alle wissen, in Aggression gegen die Kunst entladen - auch dies eine Spielart von unmittelbarer Betroffenheit -, womit sich anläßlich der Kunstbetrachtung eine vergleichbare Situation mit dem alltäglichen Prozeß zwischenmenschlicher Beziehungen in Konfrontation mit dem Ungewohnten und Fremden ereignet. Die zahlreich neu gegründeten Kindermuseen gerade in sozial schwach strukturierten Stadtlandschaften, vorrangig in den angelsächsischen Ländern, versuchen bekanntlich mit viel Erfolg die vielfältigen Aggressionsmechanismen bereits bei Kindern und Jugendlichen im Umgang mit Kunst bewußt zu machen und Wege für deren Überwindung zu erarbeiten - ein besonderer und lohnender Aspekt der Besucherorientiertheit von Museen. Die »begleitende« Information, in der eigenen Jackentasche mit der jederzeit möglichen Befragung des zunächst entmutigten Besuchers, was denn dazu andere, z.B. fachliche Gewährsleute, meinen, kann hier Beruhigung und Anreiz für eine neuerliche Auseinandersetzung bewirken. – Zum anderen haben die Erfahrungen auch gezeigt, daß diese Präsentationsart von geübteren oder solchen Museumsbesuchern, die bei einem zweiten Besuch bereits von ihr wissen oder von ihr über die hier sehr wirksame Mundpropaganda erfahren haben, als eine besonders gute Chance aufgegriffen wird, wirklich eigenes Erleben auch in der Begegnung mit Fremden zu erfahren und damit letztlich die eigene Identität zu erweitern. Ein »besucherorientiertes Museum« hätte hier also als Voraussetzung für eine Kunstbegegnung dem potentiell gewillten Besucher nahe zu bringen, daß sein Erlebnis im Museum um so intensiver, bereichender, letztendlich beglückender ist, wenn er Geduld mitbringt, Bereitschaft zu einer Begegnung mit Unbekanntem, ebenso Mut, sich mit all seinen Unzulänglichkeiten auf ein Gegenüber einzulassen und sich in eine dialogähnliche Beziehung einzubringen, wenn er Neugier wachhält und sich seiner Sinne wahrnehmend bedient, wenn er dem eigenen Sehen und seinem subjektiven Empfinden als Ausgangspunkt von Erkenntnis trauen lernt und sich der nachgebenden Akzeptanz eines suggerierten »Unmündig-Seins« in Sachen Kunst entzieht, wenn er sich auslotet in seiner Phantasie, in seinen Erinnerungen, Erfahrungen und Erwartungen, in seinem Denkvermögen, wozu ein Kunstwerk gleichsam initiierende, auch richtungsweisende Impulse geben kann, d.h. wenn er sich all jener zeitintensiven Voraussetzungen bewußt wird, die innerhalb einer von der täglich zu bewältigenden Informationsfülle und Informationsschnelligkeit pragmatisch bestimmten Lebensweise denkbar unzeitgemäß gegenläufig sind. Der Museumsbesuch, die Kunstbegegnung wäre dann ein gegensätzlich wirksames und in dieser Weise befragendes Regulativ zu den Mechanismen der gewohnten Wirklichkeit. Wie aber kann man Menschen, die in dieser Wirklichkeit funktionieren sollen, müssen oder wollen, zu einer solchen Geduld und zu den anderen genannten Eigenschaften hinführen? Künstler würden sagen, durch die Intensität der Arbeiten, von der man gepackt, nachdenklich oder betroffen gemacht wird, von ihrer Faszinationskraft, die zum Verweilen verführt, zur Beschäftigung reizt, aber auch von ihrer Radikalität, an die man aneckt, die Fragen aufwirft und eine eigene Stellungnahme provoziert, ein Sichzurechtfinden im Anderen, Gegenüber veranlaßt, d.h. im Schaffen eines geistigen wie realen Raumes, in dem dieses Sicheinlassen stattfinden kann, im Bereithalten eines Spielraumes für Wahrnehmung und Nachdenklichkeit, in dem spielerisch, also mit großer Offenheit im Fühlen und Denken ganz unterschiedliche, zunächst unkoordinierte Wahrnehmungen und Gedankengänge entstehen und sich entwickeln können und erst in einem späteren Stadium mit weiteren Informationen reflektiert werden. Bei einer solchen Vorgehensweise wird der Präsentation von Kunst größte Bedeutung beigemessen. Aufgrund der unbestreitbaren in die Gesellschaft einwirkenden Qualität von Architektur müßte die Architektur des Museums, die Beschaffenheit der einzelnen Räume hinführend zur Kunst empfunden werden, nicht aber an ihr vorbeiführend, nicht von vielen und breiten Gängen oder monotonen Raumfolgen bestimmt sein, die während des Gehens gerade noch zum flüchtigen Bemerken, nicht aber zu einem konzentrierenden Stehenbleiben als Voraussetzung eines Dialogs mit Kunst animieren. In einem solchen Raum müßte man sich wohl fühlen, nicht weil er die Atmosphäre eines Wohnzimmers hat, sondern weil die Proportion, die Lichtführung, die Wahl der Materialien für Wände, Decken und Böden, ihre Farbigkeit, weil die Bestückung mit Vitrinen, die Auswahl der Objekte, ihre Plazierung und ihre darin assoziierten Bezüge zum Verweilen einladen, weil das gebaute Ambiente voller Anregungen Neugier erweckt und zu einer Beschäftigung auf ganz individuelle, spielerische Weise mit freien, von der eigenen Situation des Betrachters bestimmten Einfällen, auch in der Wahl und Reihenfolge der vom Besucher beachteten Kunstwerke oder zu ihrer aus welchen Gründen auch immer kurzen oder langen Betrachtung führt. In einer Handschriftenausstellung mit mittelalterlichen Stundenbüchern und Psalterien 1987 im Kölner Schnütgen-Museum blieben die Besucher oft stundenlang über die Vitrinen gebeugt, um diese gut sichtbaren Cimelien in ihrer vielfältigen Ausstattung selbst zu entdecken, nicht zuletzt wohl auch deshalb, weil sie sich kaum ermüdend auf die bewußt dafür konstruierten Vitrinen auflegen konnten. Die Präsentationsweise der größten Schätze der Vatikanischen Bibliothek 1992 im Diözesanmuseum bewirkte ähnliches »Wohlbefinden«, weil, ebenfalls in bequemer Haltung, eine große Unmittelbarkeit im Erleben der kostbar illuminierten Manuskripte durch deren ermöglichte Nähe der Betrachtung erreicht wurde und zu einem immer wieder zu beobachtenden Austausch von Entdeckungen zwischen einander unbekannten Besuchern führte. Übrigens begleitete auch auf dieser Ausstellung jeden Besucher eine 50seitige Eintrittskarte zum wann immer gewünschten Gebrauch. Ich will das nicht weiter ausführen, aber schon hier wird deutlich, daß ein so verstandenes Museum in seinem Erlebnischarakter nicht ein Ort der Zerstreuung und Unterhaltung im Sinne von spektakulären Vergnügungsparks sein will, sondern vielerlei Möglichkeiten künstlerischer Setzungen und Diskurse als Sinnangebote bereithalten will; und es wäre absurd und lächerlich, die in solchen Parks geltenden und dort auch einsichtigen Unterhaltungsmaßstäbe als bereicherndes, die Frequentierung erhöhendes Stimulanz auf Kunstmuseen anzuwenden, obgleich dies bisweilen im Kulturverständnis von Kommunen ein Ziel der von der Trägerschaft erwarteten Museumsarbeit zu sein scheint. Zu den Vorgaben einer intensiven Erlebbarkeit durch Nähe und Unmittelbarkeit der Objektbegegnung und einer animierenden Lichtführung gehört im Diözesanmuseum auch eine wechselnde Dramaturgie dicht bestückter Räume, in denen z.B. zahlreiche mittelalterliche Heiligenfiguren und -bilder gleichsam die Fülle eines Heiligenhimmels, d.h. die vielfältige Heiligenverehrung jener Zeit in künstlerischen Bildfindungen suggerieren oder mit vielen unterschiedlichen Madonnenbildtypen eine Frömmigkeitsgeschichte der Marienverehrung mit all ihrem theologischen, mystischen, typologischen, endzeitorientierten, symbolischen, allegorischen, metaphorischen, der persönlichen Andacht entsprungenen Einfallsreichtum ablesbar wird, und solcher Räume, in denen ein Einzelwerk in seiner Isolierung eine auf Dauer und Intensität angelegte Begegnung provoziert oder die Bezugsetzung weniger Objekte zu einem Sicheinlassen einlädt. Daß gerade an solchen Orten des Museums zu einer Beschäftigung hinführende Voraussetzungen mit Sitzmöglichkeiten und eben einer Raumqualität, die zum Verweilen einlädt, gleichsam suggestive Vorsorge getroffen werden sollte, versteht sich von selbst. Gefordert ist hier eine Sensibilisierung des Besuchers für jene Selbstverständlichkeit und Bereitschaft, mit der er andernorts - ohne didaktische Aufbereitung - ein Konzert hört, ein Buch liest oder einen Film anschaut. Im Kölner Diözesanmuseum nutzen wir eine solche Präsentation auch für eine Konfrontation von Kunstwerken aus unterschiedlichen Epochen, um über ein kunsthistorisch orientiertes Konzept hinaus vergleichbare oder gegensätzliche künstlerische Zielsetzungen und Diskurse unabhängig von ihrer Entstehungszeit auszuloten - übrigens recht erfolgreich, was Besucherreaktionen und Nachahmungen in anderen Museen betrifft. Eine solche eher ideengeschichtlich ausgerichtete Präsentationsweise präzisiert oftmals das Bewußtmachen kunstimmanenter Eigentümlichkeiten und Qualitäten der Objekte bei aller zeitbedingten und persönlichkeitsabhängigen Andersartigkeit des im Vergleich Zusammengebrachten. Damit ist eine Erlebnisebene von Kunst erreicht, auf der Interpretation nicht über das erklärende Wort, sondern durch Kunst selbst erfahrbar wird. So ist durchaus vorstellbar, daß in eine solche Konfrontation auch etwa ein poetischer oder literarischer Text als Gegenüber einbezogen werden könnte, der dann nicht die Funktion einer Objektbeschriftung hätte, sondern eigenwertig als Kunstwerk einer anderen Gattung eine vergleichbare künstlerische Aussage sinnerhellend hinzufügt. Schließlich ereignen sich solche Konstellationen bereits in regelmäßigen Konzerten mit zum Teil neu komponierten Werken, die ausdrücklich Bezug nehmen auf Objekte bzw. die individuelle Örtlichkeit im Diözesanmuseum. Ein künstlerisches Reagieren auf Kunst als Weg der sehenden, lesenden, hörenden und darin auch für den Betrachter anregend beispielhaften Annäherung, die im übrigen auch auf dem bewußt gewählten Bauplatz für den Neubau des Museums auf Kolumba einbezogen wird, wenn bereits eingeladene Künstler auf die sichtbaren, vielfältigen archäologischen Dokumente der großen Ausgrabungszone in ihrer sich über fast 2000 Jahre erstreckenden komplexen Historizität mit ganz unterschiedlichen, auch akustischen »Eingriffen« reagieren und darin die Einmaligkeit des Ortes wie auch der Kunstwerke bewußt machen. Seit einigen Jahren wechseln wir alle drei Monate solche Konfrontationen mit neuen Befragungen, indem z.B. ein längere Zeit präsentes Objekt mit neu hinzukommenden Dingen zu anderen Sichtweisen, auch desselben Kunstwerks, anregt. Dieser Erlebnisprozeß, den wir mit dem nun schon geläufigen Titel Wiederbegegnung mit Unbekanntem in seiner nur scheinbar widersprüchlichen Komplexität bezeichnet haben, führte inzwischen zu einer erheblich wachsenden Besucherfrequenz des Museums. Die Frage »Was haben die jetzt miteinander in einen Dialog gebracht?« »Packt mich das genauso wie bei der letzten Konfrontation?« u.a.m. läßt immer mehr Menschen zu kurzen, aber häufigeren Besuchen im Sinne von aktuellen, überprüfenden Orientierungen kommen; manche kommen mit einem solchen Anliegen in der Mittagspause, wie überhaupt beobachtet werden kann, daß diese Art von Lebendigkeit und Aktualität einer Sammlung mit überschaubar vielen Veränderungen und Auswechslungen zu kurz entschlossenen und selbstverständlichen, in die tägliche Wirklichkeit integrierten Visiten führt, während diese Besuche, wenn sie offiziell und länger geplant sind, bisweilen gar nicht, zumindest aber nicht in dieser Häufigkeit ausgeführt werden. Ein entscheidender zusätzlicher Anreiz für diese Verhaltensweise ist, daß im Diözesanmuseum der Eintritt frei ist (mit Ausnahme bei großen Sonderausstellungen). Hinter einer solchen Entscheidung steckt natürlich ein Verständnis von Bildung - und auch der dafür bereitgestellten Institution - als Eigendimension der Gesellschaft, zum anderen aber auch ein so nebensächlich wirkender psychologischer Hinweis, nicht dem naheliegenden Zwang zu erliegen, besonders bei einem hohen Eintrittspreis entsprechend einem geläufigen Leistungsbegriff auch möglichst alles in einem Museum sehen zu müssen, wo es doch eigentlich auf die Intensität von Wenigem entsprechend der eigenen Erlebnis- und Aufnahmekapazität ankommt. Ein solches Verständnis von Besucherorientiertheit eines Museums, das seine Rezeptionsebene nicht zuallererst im Weitergeben von bereits erarbeitetem Wissen, sondern in der Zwiesprache eines neugierig gemachten, sich mit Geduld und Bereitschaft einbringenden Besuchers in der individuellen Auseinandersetzung mit einem ungewohnten Gegenüber anbietet, erfährt beim Besuch von Gruppen eine zusätzliche Erweiterung seiner Möglichkeiten. Im Kölner Diözesanmuseum gibt es keine Gruppenführungen, es gibt, wie nach dem zuvor Gesagten verständlich ist, überhaupt keine Führungen mit einem wie immer gearteten, menschlichen oder instrumentalisierten »Führer«, der im einseitigen Informationsfluß Kunst vermittelt und damit die fehlende Objektbeschriftung, also das Erlebnisprinzip der erst nachfolgenden Verstandesarbeit unterlaufen und wieder zurückfallen würde in das gewohnte Prinzip der Mitteilung von Erkenntnis vor der Wahrnehmung durch die noch nicht eingeweihten Besucher. Statt dessen gibt es Gespräche in diesem Museum, d.h. eine Orientierungsform, bei der jeder Teilnehmer sich mit dem, was zuvor über den Einzelnen gesagt wurde, einbringen kann. Gerade das, was traditionelle Führungen - und das gilt auch für noch so variantenreich informierende Computerterminals - charakterisiert, das Vorstellen einer Sammlung, das Hinweisen auf Meisterwerke, kunsthistorische Erklärungen und Daten von Künstlerbiographien und vieles andere, was in schriftlicher, digitaler oder sonstiger Form vermittelt werden kann, bleibt, wenn überhaupt, nebensächlicher, eher später einzulösender Bestandteil solcher Gespräche, die vielmehr von spontanen Wahrnehmungen und daraus entstehenden Fragen einzelner Teilnehmer in Gang gebracht werden und in einem vorher nicht festgelegten Verlauf die weite Peripetie von Erlebnismöglichkeiten des einzelnen Menschen ergründen. Wenn der eine Besucher z.B. in der Arbeit Spuren auf weißem Grund von Antoni Tàpies aus dem Jahre 1965 im Diözesanmuseum eine denkbar intensive Bildmetapher der um eine offene, nicht erkennbar definierte Mitte angelegten Sinnsuche erlebt, so empfindet ein anderer die kreisende Bewegung menschlicher Fußspuren innerhalb des begrenzenden Bildgevierts als eine von außen einwirkende bedrohliche Einengung, die eine Entfaltung, ein Ausweichen nicht zuläßt - zwei Erlebnissituationen eines überaus präzisen, aber zugleich auch notwendig offenen Kunstwerks durch die individuelle Persönlichkeitsstruktur zweier Besucher, die sich - wahrnehmend und sich selbst befragend - in die Auseinandersetzung mit dem ihnen unbekannten Kunstwerk einbringen (man erinnert sich: der Betrachter ist im Bild). Der »Leiter« eines solchen Gesprächs hat aufgrund seiner Gegenwart und Ansprechbarkeit die große Chance, die oben genannten Voraussetzungen für ein solches Kunsterlebnis, nämlich Geduld und Bereitschaft zum Sicheinlassen auf ein ungewohntes, ja fremdes Gegenüber mit all seinen Folgen, immer wieder zu initiieren und darin in der Tat schließlich als Kunstvermittler aktiv zu sein, d.h. nach dem Grimm'schen Wörterbuch, zwischen zwei Gegebenheiten ein verbindendes Mittelstück einzusetzen, eine Brücke der Begegnung des Betrachters und des Kunstwerks bewußt zu halten. Es würde hier zu weit führen - und wird auch nicht notwendig sein - die Dimension des inhaltlichen Sammlungskonzepts des Diözesanmuseums mit einzubringen, doch wird nachvollziehbar geworden sein, daß hier Kunst auf ihre Möglichkeiten hin ausgelotet wird, Wirklichkeit zu setzen, um vor dem Hintergrund des kirchlichen Trägers künstlerische Setzungen als visualisierte Sinnangebote, als realisierte Sichtweisen einer möglichen Wirklichkeit - denn was ist Kunst anderes? - in einem Dialog mit christlichen Vorstellungen zu befragen. Dahinter steht auch ein Verständnis von Kunst als einer »konkreten Utopie« im Sinne Ernst Blochs, also einer Möglichkeit von Kreativität, die, mit den Worten Walter Warnachs anläßlich seines Vortrags zur Gründung der von Joseph Beuys initiierten Freien internationalen Hochschule für Kreativität und interdisziplinäre Forschung e.V. auf der dokumenta 6, 1977 in Kassel, »dem Wirklichen die reale Möglichkeit... eines Handelns abgewinnt, das die geschichtlich-gesellschaftliche Bewegung hier und jetzt aufnimmt und einige Schritte weiterträgt«. Kunsterleben als Erkenntnisprozess des Anderen, nicht nur realisiert als Entwurf einer anderen vorstellbaren und möglichen Wirklichkeit, sondern zugleich auch personifiziert in der Persönlichkeit eines anderen Menschen. Dahinter steht demnach auch ein Verständnis vom Betrachter als eines wahrnehmenden, sich einbringenden, sich einmischenden, sich im weitesten Sinne politisch bewußt werdenden Individuums mit der Erfahrung »der unaufhebbaren Wirklichkeit des Anderen«, um noch einmal Walter Warnach zu zitieren, einer Erfahrung »der Zuwendung eines Anderen, der mir selbst verborgene Möglichkeiten meiner selbst gerade durch sein Anderssein in mir entbindet, aber ebenso die Erfahrung streithafter Auseinandersetzung, in der mir aufgeht, daß ich meine Freiheit nur gewinnen kann, wenn ich die Freiheit des Anderen gelten lasse, Freiheit nie nur meine Freiheit, sondern immer solidarische Freiheit ist.« Und schließlich als drittem, nach der Ortgebung der Kunst und des Betrachters, steht hinter einem solchen Verständnis der Vermittler - als einzelne Person wie als museale Institution - mit der dienenden Aufgabe, zum einen der Kunst zu ihrem Recht zu verhelfen bzw. es ihr nicht nehmen zu lassen, nämlich die zu ihren existentiellen Bedingungen gehörende Qualität einer Wirklichkeitssetzung bewußt zu machen, und zum anderen dem Betrachter dies im eigentlichen Sinne des Wortes vor Augen - später auch vor den Verstand - zu führen und ihn für ein solches Kunsterleben bereit und empfänglich zu machen, damit seine Wahrnehmungsfähigkeit nicht im ausschließlichen Rezipieren vorgefertigter Verbrauchsformen, wie sie etwa die Medien im unablässigen Informations-, Unterhaltungs-, und Werbungsfluß allgegenwärtig bereithalten, verkümmert und er sich nicht mit jener minimalen Existenzbedingung begnügt, in den fraglos bleibenden, also spannungslos gewordenen täglichen Standards zu funktionieren, und er nicht unansprechbar wird für die Chance einer vielfältig möglichen Einbringung seiner selbst in eine Begegnung, damit er nicht im Sinne von Paul Virilios vom Phänomen der Geschwindigkeit dominierten Wirklichkeitsverständnis der Gegenwart im unaufhaltsamen Fluß der Schnelligkeit selbst verlorengeht. Eine Chance auch für die Gesellschaft, trotz oder gerade als Folge eines omnipräsenten, vernetzten Miteinander-in-Verbindung-Seins sich nicht zugleich in einer fortschreitend intensivierenden Singularisierung und Monadisierung zu zersplittern. So geht es letztendlich darum, da Kunst nicht Antworten gibt, sondern im Sinne von möglichen Sichtweisen Sinnangebote macht, Fragestellungen und Dialoge initiiert und Voraussetzungen für Entdeckungen schafft, daß der Einzelne auf sie mit dem Potential seiner Selbsteinbringung reagiert, daß er sensibilisiert wird, darauf zu reagieren gleichsam in einem Dialog, der ihm einen Entscheidungsfreiraum bewußt macht. Aus solchem Selbstverständnis des Museums resultiert, daß es keine Bedienungs-Institution ist für eine sich im Konsumieren verstehende Gesellschaft, sondern einen Organismus darstellt, der selbst Wünsche und Angebote als zu entdeckendes Neues erzeugt. So geht es darum, daß der Museumsbesucher Phänomene wahrzunehmen lernt und diese ihm nicht - bereits intellektuell seziert - serviert werden, Phänomene der Kunst und somit darüber hinaus der umgebenden Wirklichkeit, um sich gleichsam mit semiotischer Neugier seines Umraumes zu bemächtigen, damit ganz allgemein seine Erlebnisbereitschaft und Erlebnisfähigkeit geweckt und intensiviert wird und er sich als ein sich selbst befragender, suchender und damit in seiner Identität erzeugender Betrachter erlebt. Das besucherorientierte Engagement eines Museums muß somit diese kreative Möglichkeit der Kunst mit der erlebenden Fähigkeit des Menschen verbinden, d.h. vermittelnd bewußt machen und in jene Balance bringen, von der ich eingangs sprach.

Veröffentlicht als Heft 5 in der Reihe "wortwörtlich", Diözesanmuseum Köln, Köln 1995 (vergriffen)

© Diözesanmuseum Köln/ Kolumba/ Joachim M. Plotzek 1995
Veröffentlichung – auch auszugsweise – nur mit Quellenangabe