Kolumba
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Stefan Kraus
»Das Thema christliche Kunst ist abgehakt"
Überlegungen zum Verhältnis von Ästhetik und Seelsorge

Vortrag beim Aschermittwoch der Künstler
Katholische Akademie, Freiburg 1.März 2017 *

Sehr geehrter Herr Erzbischof,
lieber Pfarrer Stengele, meine Damen und Herren,
Sie werden es an den Anführungszeichen bemerkt haben: Den Titel meines Vortrags »Das Thema christliche Kunst ist abgehakt« habe ich mir geborgt. Er dient mir, um beim eingefahrenen Thema Kunst und Kirche schneller voran zu kommen, als Einstieg in Überlegungen zum Verhältnis von Ästhetik und Seelsorge. Die entschiedene Absage an das, was wir für “Christliche Kunst” halten könnten, geht auf Herbert Falken zurück, den nunmehr 84jährigen Künstler und Priester, dessen Werk viele von Ihnen kennen werden und der in der Sammlung von Kolumba einen der monographischen Schwerpunkte setzt. | Sie sehen ihn hier mit dem für ihn typischen skeptischen Blick in seinem Atelier in der Nähe von Düren (Abb.1). Im Hintergrund befindet sich auf einer Staffelei eines seiner frühen Gemälde, bezeichnenderweise ohne Titel, aus dem Jahre 1967. Ich möchte Ihnen den Kontext, dem ich den Titel meines Vortrags entnommen habe, nicht vorenthalten: »Das Thema christliche Kunst ist abgehakt«, so Herbert Falken. »Ich mache keine christliche Kunst. Was die Kunst zur Kunst macht, ist nicht das Christliche, sondern die Form. Das christliche Thema malen auch die Kinder in der Schule. Wenn man christliche Kunst sagt, sagt man, es gäbe einen Unterschied zur Kunst.« Das Zitat ist nicht von heute, es stammt aus einem Gespräch, das ich vor zweiundzwanzig Jahren mit ihm führen durfte.(1)

Als Künstler und als Geistlicher ist Herbert Falken in zweifacher Hinsicht Seelsorger. Geboren 1932 und 1964 zum Priester geweiht, erhielt er seinen lebenslangen Impuls durch den Geist des Zweiten Vatikanischen Konzils, das 1965 mit der Pastoralkonstitution »Gaudium et Spes« (Freude und Hoffnung) zu Ende ging. Dessen Grundanliegen, das »Aggiornamento« der Kirche, wurde für Falken zum Auftrag, sich gerade auch mit Blick auf die Kunst, radikal der Gegenwart anzuschließen. Die erstaunliche Karriere des an seinen beiden Berufungen stets Zweifelnden, führte ihn 1977 zur Teilnahme an der Documenta in Kassel und 1998 zur Verleihung der Ehrendoktorwürde der Theologischen Fakultät der Universität Bonn. Seine Entschiedenheit in der Ablehnung vorgedachter Begriffe einer sogenannt christlichen Kunst geht weit zurück. Schon 1975 stellte er »Zehn Gebote für einen christlichen Künstler«, aber vor allem wohl für sich selbst auf. Darin heißt es zuerst: »Du sollst keine christliche Kunst machen wollen.« (2) Er hat dieses selbstauferlegte Gebot vor einigen Jahren noch einmal bestätigt und ausgeführt: »Ja, man darf keine christliche Kunst machen wollen. Aber das können Sie auch auf die religiöse Kunst erweitern. Wenn Sie das Gewicht auf das Wollen, auf diesen Vorsatz legen, bin ich auch mit der Version einverstanden. Alles Gewollte ist nichts. […] Wenn ich meinen Glauben malen will, ist es aus, brauche ich gar nicht erst anzufangen. Aber wenn ich etwas mache, und mein Glaube schwingt im Unterbewusstsein oder in der zeitweiligen Reflexion mit rein, dann ist es richtig – für mich jedenfalls.«(3)

Da wird mit Blick auf das Verhältnis von Kunst und Religion und dem Zweifel am Gewollten eine Skepsis gegenüber dem bereits Erwarteten deutlich. Herbert Falken beschreibt die Gefahr, dass wir alle meinen zu wissen, wie unser Glaube ausschaut, zu welchen Bildern er findet, und dass wir dadurch die eigentlich wesentlichen, weil authentischen Bilder verpassen könnten. In unserem Kontext ist Falkens Absage umso gravierender, als hier der Seelsorger spricht, also einer, der in seinen beiden Berufungen, um sein und unser Seelenheil ringt. Als Gott-Suchender reklamiert er die Unzulänglichkeit, in der Kunst nur die Bestätigung dessen zu sehen, worauf wir uns als modifiziertes Vokabular einer tradierten christlichen Ikonographie verständigt haben. Mit seinem Bild von 1967, das zweifellos Anregungen des spanischen Malers Antonio Tápies sowie der Künstler der Art Brut verarbeitet, steht Falken am Anfang einer künstlerischen Auseinandersetzung mit der Tradition des Christusbildes auf der Suche nach neuen Ausdrucksformen. Die Farben mit Sand vermischt, an rote Erde ebenso wie an graue Asche erinnernd, sucht er eine extreme Materialität auf, um das Christusbild aus dem Klischee, in die es das 19.Jahrhundert hineingeführt hatte, herauszulösen und in eine irdische Wirklichkeit zurückzuholen. Falken zeichnet seinen Christus in das Material hinein, wie etwas Vorläufiges, das man in den Sand ritzt – etwa am Strand, wissend, dass es Sekunden später mit der nächsten Welle fortgespült werden wird. Erst zwei Jahre später entstand unter dem Titel »Scandalum Crucis« eine ganze Serie von Christus-Bildern, mit denen Herbert Falken überregional bekannt werden sollte.

»Was die Kunst zur Kunst macht,« so Falken, »ist nicht das Christliche, sondern die Form.« Dies soll der Ausgangspunkt meiner Überlegungen zum Verhältnis von Ästhetik und Seelsorge sein. Denn wenn es die Form ist, die die Kunst zur Kunst macht, dann bedingt es die Ästhetik, darüber zu entscheiden. Als Museumskurator und als Kunstvermittler werde ich nicht von der Theorie der Ästhetik sprechen, sondern von deren Praxis, der griechischen “Aisthesis”, der Wahrnehmung und Empfindung im Sinne einer Lehre der Anschauung. Ich kreise dabei um den Ort, der für sich reklamiert als Museion – als Heiligtum der Musen – der ideale Ort für Kunst zu sein, was es zu überprüfen gilt. Wie wird das Museum zu einer Schule des Sehens? Und wie könnte die Wahrnehmung von Kunst darin als Seelsorge wirksam werden?

Dazu möchte ich Sie – Falkens Zweifel am bereits Erwarteten folgend – auf einen Spaziergang einladen, der mit Gegenbildern arbeitet. Vergessen Sie für diesen Moment einmal alles, was Sie mit dem Begriff Museum verbinden. Ich lade Sie dazu ein, sich den Museumsbesuch als einen Waldspaziergang vorzustellen. (Abb.2) Dieses Gegenbild ist uns allen vertraut, das Bildbeispiel mit den Schneeresten könnte in der näheren Umgebung von Freiburg erst vor einigen Tagen entstanden sein. Den Wald erfahren wir als eine Quelle der Regeneration, deren eigentliche Ursache wir kaum durchschauen. Die einzelnen Details dieses Erfahrungsraumes – Bäume, Gräser, Licht und Schatten, Luft, Bewegung – vermögen nicht zu erklären, weshalb uns der Aufenthalt im Wald stärkt. In der Regel werden wir unsere Erwartung an die mit dem Waldspaziergang verbundene Erholung bestätigt finden und gleichzeitig doch immer mit unerwarteten Eindrücken zurückkehren, die das Besondere ausmachen und die uns gerade deshalb bereichern.

Zugegeben, gegenüber der lebendigen und dennoch Ruhe stiftenden Vielfalt des Waldes ist die Situation vor der Mona Lisa, dem wohl berühmtesten Bild der Kunstgeschichte, ein gemeines Gegenbild.(Abb.3) Es ist Ausdruck einer Rezeption von Kultur, die dem Fast-Food gleicht und mit der Quantifizierung des Tourismus einhergeht. Was kann der Louvre dafür, dass fast jeder Paris-Besucher meint, Leonardos berühmtes Bildnis gesehen haben zu müssen? Wobei das Sehen selbst Nebensache zu sein scheint, denn in der Hauptsache geht es offenbar darum, dort gewesen zu sein und seine Anwesenheit vor dem Original mittels des Smartphones zu dokumentieren bzw. zu übermitteln. Eines der bedeutendsten Museen der Welt verkommt an dieser zentralen Stelle zum Erfüllungsgehilfen von Erwartungen, denn mit der Authentizität des Gemäldes bestätigt es die Authentizität eines längst vorgedachten Momentes, der im Augenblick der Begegnung bereits abgehakt werden kann. Es sei kritisch angemerkt, dass sich das Museum perfekt in diese Rolle fügt, indem es den Besucher mit einem Beschilderungssystem ab der Kasse präzise dorthin leitet. Wäre es den versammelten Werken dieser einmaligen Gemäldegalerie nicht weit angemessener, genau darauf zu verzichten und den Besucher dazu einzuladen, auf seiner Suche nach dem einen erwarteten Bild, anderen Werken zu begegnen und diese wertzuschätzen? Wäre die Suche selbst nicht eine Einladung dazu, sich der Neugierde als einer Voraussetzung des erkennenden Sehens von Kunst bewusst zu werden?

Ein weiteres Bildbeispiel, in diesem Fall aus dem Getty-Museum in Los Angeles (Abb.4), könnte in fast jedem anderen Museum entstanden sein, da es stellvertretend für eine Situation steht, ohne die wir offenbar meinen, uns ein Museum nicht vorstellen zu können: die Führung. Es ist die allgemeine Erwartungshaltung, dass Kunst im Museum erklärt werden muss, sei es in Beschriftungsschildchen, Erläuterungstafeln, Saalzetteln, Kurzführern oder geführten Rundgängen. »Worte sind im Museum genauso überflüssig wie im Konzertsaal«, möchte ich demgegenüber den legendären Frankfurter Museumsdirektor Georg Swarzenski zitieren,(4) ohne dies ausführen zu können. Es würde mich zu weit von dem gestellten Thema entfernen, wollte ich versuchen, auf diesen Umstand genauer einzugehen. Daher dient mir als Abkürzung der Wald erneut als Gegenbild.

Denn warum erfreut mich der Aufenthalt im Wald, der Blick auf Bäume, Unterholz und Lichtungen, ohne dass ihn mir jemand erklären müsste? Was nicht heißt, dass eine Führung im Wald – wie im Museum – durchaus ihren Sinn haben kann, indem sie meine Kenntnis über Zusammenhänge und Hintergründe erweitert. Doch wird dadurch das Erlebnis Wald in seiner Intensität gesteigert? Wird meine Freude größer, wenn mir jemand den Wald erklärt? Gerade darin sind sich Kunst und Natur sehr verwandt. Es waren die Künstler – denken Sie an Paul Klee –, die die Kunst mit dem Begriff der »Gegennatur« bezeichnet haben. Warum dann der ganze Vermittlungsaufwand im Museum? Ist es nicht vielmehr so, dass Erklärungen im Moment des Erlebens geradezu störend wirken, weil sie dem Moment eine Metaebene verleihen, mit der die Unmittelbarkeit der Empfindung eingeschränkt wird? »Wissen, das man nicht brauchen lernt oder überhaupt nicht brauchen kann, ist in künstlerischen Dingen so überflüssig wie überall und oft geradezu schädlich,« schrieb Alfred Lichtwark, der erste deutsche Museumspädagoge im Jahre 1902, »denn, an sich eine unfruchtbare Sache, hat es die Tendenz, steril zu machen, namentlich das gelernte, nicht selbst erworbene Wissen. Was bei der Betrachtung des Kunstwerkes an Wissen und Erkenntnis nötig wird, sollte stets entwickelt, nie mitgeteilt werden. […] Es muss immerwährend mit dem Auge gearbeitet werden.«(5)

Wenn also Ästhetik der Maßstab für die Wirksamkeit des Kunstwerkes ist, dann scheitert das Museum in vielen Fällen noch bevor ein Zuviel an Vermittlung das subjektive Erlebnis verhindert. Denn von der Disposition der Werke und der Detailtreue im Umgang mit ihnen hängt es ab, ob sich das Potential der Kunst überhaupt entfalten kann. Wer das MoMA vor seiner Erweiterung und Neueröffnung im Jahr 2004 gekannt hat, wird sich daran erinnern, dass Monets meditatives Seerosen-Panorama gegenüber der bodentiefen Fensterreihe hing, die den Raum zum Skulpturengarten hin öffnete, ihm Tageslicht und mit der Verbindung zum Garten auch Ruhe gab. Die neue Situation wirkt demgegenüber wie das verlängerte Museumsfoyer, als Durchgangsraum ein Ort der Bewegung, der selbst durch Barnett Newmans »Broken Obelisc« nicht zur Ruhe kommen kann.(Abb.5) Der Informationsständer mit dem Hinweis auf Führungen ist an dieser Stelle in der Nähe zum Werk als unfreiwillig humorvolle Wiederholung der Stele natürlich genauso fehl am Platz wie die Infotafeln, Schriftenstände oder Yucca Palmen in unseren Kirchen.

Ist es nicht erstaunlich, dass mir der Blick in den Wald zuweilen das Bild einer größeren Ordnung vermittelt? (Abb.6) Wobei ich den Wald präziser als Forst bezeichnen muss, da es sich – in Analogie zum Museum – ja keineswegs um einen sich selbst überlassenen Urwald handelt, sondern um einen sehr bewusst gehegten und vom Menschen gestalteten Wirtschaftsraum. Als habe jemand die einzelnen Baumstämme genau an ihren jeweiligen Ort gestellt, damit ich ein Verhältnis von Nähe und Ferne finden, Vordergrund und Hintergrund voneinander unterscheiden kann und den Baum vor lauter Bäumen dennoch finde. Nach diesen einführenden Überlegungen möchte ich Sie immer wieder an die Frage der Wirkmächtigkeit von Kunst zurückführen und dabei das Thema einer Verbindung von Ästhetik und Seelsorge nicht aus den Augen verlieren. Ich möchte Sie dazu einladen, sich von Erwartungen frei zu machen, sich neugierig und bereit, der Begegnung mit dem Unerwarteten, dem Unbekannten zu öffnen.

Möglicherweise sind wir mit den Gegenbildern des Waldes schon ein wenig besser darauf vorbereitet, die Inszenierung von Kunst auf uns wirken zu lassen. Im konkreten Fall begegnen uns darin zweiundzwanzig auf Thronen sitzende Steinfiguren in verschiedenen Posen und unterschieden durch Kleidung und Attribute.(Abb.7) In der Aufstellung sind Nähe und Ferne offensichtlich berücksichtigt, soll durch den Abstand und die verschiedenen Blickwinkel die Individualität des Einzelnen innerhalb der zusammengehörigen Werkgruppe eine Berücksichtigung finden. Noch bevor wir uns mit Wissensfragen beschäftigen, könnte daher die Faszination darin bestehen, von Figur zu Figur zu gehen, sich wandelnd im Raum aufzuhalten, um eigene Beobachtungen ihrer Verschiedenartigkeit zu sammeln und persönliche Favoriten zu entdecken.(Abb.8)
Wir befinden uns im größten Ausstellungsraum von Kolumba in der Bespielung von 2016 bis 2017 mit den Archivoltenfiguren vom Petersportal der Kathedrale, einer großartigen Leih­gabe der Kölner Domkirche. Der trapezförmige, sich zu mehreren Seiten hin öffnende Grundriss des Raumes und sein durch wandgroße Fenster aus verschiedenen Richtungen einfallendes Tageslicht, das im Tagesverlauf mit den Volumen der Skulpturen spielt, legt die feldartige Ausbreitung dieser Versammlung von Historischen Personen, Heiligen, Prophe­ten und Engeln nahe, zumindest aber ermöglicht der Raum die Umsetzung dieser Idee.

Es ist das räumliche Zentrum unserer Jahresausstellung »Über das Individuum«, weshalb uns die Begegnung mit der Feinheit dieser herausragenden Werke des ausgehenden 14.Jahrhunderts auf Augenhöhe mit dem Betrachter angebracht und wesentlich erschien. Wir erleben dadurch nicht nur die ursprüngliche Qualität der Skulpturen, sondern – wie häufig bei musealen Objekten – auch die Spuren der Zeit; Spuren ihrer mehrere Jahrhunderte währenden Aufstellung im einzig mittelalterlichen Portal, der erst im 19.Jahrhundert vollendeten Kathedrale; im Petersportal des bis dahin unvollendeten Nordturms waren sie fast sechs Jahrhunderte lang der Witterung ausgesetzt, bis sie Ende der 1970er Jahre durch Kopien an Ort und Stelle ersetzt wurden. Liegt es an unserer durch die Kunst nach 1945 geschulten Ästhetik, dass wir die Spuren der Zerstörung nicht als Mangel, sondern fast als eine Art der würdevollen Auszeichnung empfinden? Sind sie uns mit den Spuren des Verfalls nicht weitaus näher, und werden gerade durch diese zu Zeugen der Geschichte?

Sie entschuldigen bitte meine Penetranz, mit er ich das Gegenbild des Waldes immer wieder strapaziere, aber ich möchte den Versuch dieser Gegenüberstellung wagen, um meine These zu überprüfen, ob man sich den Museumsbesuch wie einen Waldspaziergang vorstellen kann.(Abb.9) An diesem aufgeschichteten Stapel geschnittener Baumstämme finden sich die Spuren der Arbeit, die es gemacht haben wird, sie alle auf die gleiche Länge zu sägen. Es entwickelt sich an diesem banalen Detail, dass hier im rechten Licht erscheint, eine Geschichte, die sich mir aufgrund eigener Beobachtungen in Teilen erschließt. Aber was macht die offenbar gesprayte Markierung dort? Welche Bedeutung verbirgt sich hinter dem kreisrunden Zeichen? Hat es ökonomische Hintergründe, bezogen auf Eigentum oder den Abtransport des Stapels und gibt es in der Umgebung Wiederholungen, die ein System ergeben könnten? Warum dieses strahlende Blau, hätte es jede andere Farbe sein können? Die sich ergebenden Fragen müssen keine Beantwortung finden. Sie sind mir als Fragen gut genug, denn vermutlich ist meine Phantasie reicher als der vermutlich banale Hintergrund des Zeichens.
Zurück im Museum sind es wiederum die aus der Nähe betrachteten Details, an die ich anknüpfen möchte.(Abb.10) Wir wandern über eine Struktur satter Pinselstriche und sind demjenigen, der sie gesetzt hat, der den Pinsel in der Hand hielt, bei dieser nachschöpfenden Beobachtung ganz nah, können sein Temperament verfolgen, seine Entscheidungen in Frage stellen, uns in den Malprozess vertiefen. Die vermeintliche Beliebigkeit dieser Struktur wird sich bei ausdauernder Betrachtung immer weiter ordnen, bis sich spätestens mit der Übersicht, dem Blick auf das ganze Gemälde, der Eindruck einer mit jedem einzelnen Pinselstrich – wohl mehr intuitiv als kognitiv – sehr bewusst gesetzten Malweise einstellt. (Abb.11)
Die derart mit dem Pinsel strukturierte Ölfarbe gibt sich in der Ganzaufnahme des Gemäldes als Figuration eines offensichtlich schreitenden Menschen zu erkennen, der weniger aus der Kontur heraus geformt wurde, als aus der physischen Masse des Materials. Der Maler belässt die Körperlichkeit der Figur in einer Unschärfe, die vom Betrachter weitergedacht werden muss, um dem Menschen eine Persönlichkeit zu verleihen, deren Eigenschaften an die gewählten Farben und deren Setzungen gebunden sind. Es ist dieser Umweg über den Betrachter, der dahin führt, dem Menschen ein anthropologisch und damit allgemein wie individuell erlebbares Bild seiner selbst zu geben.

Es ist nicht allein das Schreitmotiv der dargestellten Figur im Gemälde von Eugène Leroy, die es mit dem Schreitmotiv des Kindes der Muttergottes von Jeremias Geisselbrunn verbinden.(Abb.12) Die Geste der Berührung, die wir in den Pinselspuren des Malers so unmittelbar erleben konnten, ist hier Gegenstand der Darstellung. Maria führt den Christusknaben mit lockerer Hand, während er sich mit seiner Rech­en an ihrem Nacken festhält. Das freie Bewegungsmotiv der jungen Mutter und ihres Kindes und die da­mit erreichte Lebendigkeit ist ein wesentliches Merkmal dieser barocken Skulptur vom Marienaltar aus St.Kolumba, die im Zweiten Weltkrieg zerstört wurde und erst Anfang der 1990er Jahre in mühsamer Arbeit aus siebzig Fragmenten wieder zusammengefügt werden konnte. Auch hier sprechen die Spuren der Zerstörung eine ganz eigene Sprache.

Die Wegführung solcher Überlegungen ist abhängig vom Kontext. Eine Möglichkeit des Zeigens von Dingen ohne Kontexte besteht ohnehin nicht, denn alles Wahrgenommene steht ja in Kontexten. Auch die Situation, die uns hier beim Aschermittwoch im Moment verbindet ist ein Kontext der voller Bedingungen steckt, die dazu beitragen können, dass die vorgedachte Situation eines Vortrags mit Lichtbildern gelingt oder scheitert. Das mag in diesem Fall nicht so wesentlich sein, allenfalls für Sie oder für mich erfreulich oder ärgerlich und ist dann vermutlich schnell wieder vergessen. Sofern aber Ästhetik ein Leitfaden des Museums sein soll, es seinen Auftrag als »Schule des Sehens« erfüllen möchte, ist die Wahl der Kontexte genau zu bedenken. In diesem Fall sind es wenige Werke, die sich als Angebot im Raum versammelt finden. Vielleicht fühlt man sich durch diese Reduktion eher dazu eingeladen, sich mit dem Vorhandenen zu beschäftigen und nach etwaigen Parallelen zu forschen. Die dezentrale Anordnung der wenigen Werke empfiehlt den Vollzug einer Bewe­gung im Raum, die immer wieder andere Perspektiven ermöglicht. Der gebührende Abstand zueinander lässt ihnen einerseits genug Raum, um für sich wirken zu können, andererseits bietet er die Möglichkeit, Verbindungslinien zu schlagen, die von ästhetischen Merkmalen angestoßen werden, um zu inhaltlichen Überlegungen zu führen. Wobei diese Abfolge in Frage zu stellen ist, denn vermutlich ist es eher so, das die Ästhetik selbst Inhalt ist. Wie im Landschaftsraum hängt jedenfalls einiges davon ab, welche Fokussierung man wählt.

Das Erlebnis der Kunst ist eine Frage des Zwischenraums. Genau genommen entsteht die Kunst erst in diesem Zwischenraum: dem Zwischenraum der Werke zueinander, der eine Disposition für den Abstand des Betrachters zu den Werken stellt. In diesem Zwischenraum und mit der Fokussierung auf das, was einen als Betrachter ganz subjektiv interessieren könnte, verwandelt sich das Material zu dem, was Kunst ausmacht. Es sind daher die eigenen Entdeckungen, die zu ermöglichen das Anliegen einer Ausstellung sein sollte.(Abb.13) In ihnen verbirgt sich das Potential der Wirksamkeit von Kunst. Hierin gleicht der Blick des Betrachters dem des Künstlers, der am eigenen Werk die Verwandlung von Material in Kunst erlebt.(6)

Gegenüber dem Kleinen sinnierenden Akt, dessen Bewegungsmotiv in den entschiedenen und strichartig gesetzten Pinselstrichen eine Entsprechung findet, bleibt die Figur im »Nächtlichen Akt« mittels der reliefartig geschichteten und miteinander verwobenen Farbmaterie geheimnisvoller und stiller.(Abb.14) Nur schwer lässt sich die Kontur einer Halbfigur, die in der rechten Bildhälfte in leichter Aufsicht dargestellt ist, aus der räumlich indifferent bleibenden Farbmasse herauslösen. Ihre Darstellung bleibt in Haltung und Perspektive auch bei langer Betrachtung uneindeutig. Ganz offensichtlich ist die Unschärfe hier ein wesentlicher Teil des Ausdrucks. Das gegenüber dem schreitenden Akt zwanzig Jahre frühere Bild gibt Auskunft darüber, wie kontinuierlich sich der Maler mit diesen Möglichkeiten des Zeigens und Verbergens beschäftigt hat, wie sehr es sein Anliegen gewesen ist, dem Respekt vor der fragilen Sphäre des Individuums mit den Mitteln der Malerei einen adäquaten künstlerischen Ausdruck zu geben. Es ist eines der kennzeichnenden Merkmale der Malerei von Eugène Leroy, dass die Farbe den Körper seiner Akte moduliert, sie dabei aber stets mehr zu verhüllen scheint, als preiszugeben. Wenn vorhin die Rede davon war, dass Kunst erst im Zwischenraum von Werk und Betrachter entsteht, dann geschieht dies über ein Sehen, dass durch die Erinnerung bereichert wird. Erinnerungen des Malers, mit der die erarbeitete Form des Werkes offenbar gesättigt ist, sowie die Erinnerungen des Betrachters, der mit seiner Lebenserfahrung darauf zu reagieren vermag. In Vorbereitung auf diesen Vortrag stieß ich auf einen Gedanken des Freiburger Philosophen Rainer Marten, der die Abhängigkeit von Sinnlichkeit und Spiritualität, von Materialität und Transzendenz, von Körper-Erfahrung und Vergeistigung beschreibt: »Die Sensibilität des Künstlers vergeistigt die Dinge. Er macht aus allem etwas und wenn er das Besondere auf die Spitze treibt, wird es exemplarisch. Aber die Vergeistigung gründet immer in der Sinnlichkeit – bis zum Körpergedächtnis.”(7) Was für ein schöner Begriff: das Körpergedächtnis. Es bringt die nicht kognitiven Anteile in der Begegnung mit Kunst auf den Punkt. Die Unschärfe des Kunstwerkes, die ich als Teil seiner Qualität lieber mit dem Begriff der »Präzisen Ambivalenz« bezeichnen möchte, wird hier zur Voraussetzung dafür, dass sich der Betrachter selbst einbringen kann, um das Kunstwerk auch mittels seines Körpergedächtnisses in einem von ihm empfundenen Sinne und nur für den jeweiligen Moment vollenden zu können.

Solche Nachbarschaften von Werken, deren Wahrnehmung sich steigert, müssen sich nicht unmittelbar ergeben, sie können im Kontext des Kunstmuseums auch in räumlich-zeitlicher Folge stattfinden. In der diesjährigen Präsentation in Kolumba kann der Besucher einem vergleichbaren Detail und einer vergleichbaren künstlerischen Haltung bereits begegnet sein.(Abb.15) Denn im Hof von Kolumba schauen wir auf das Detail der Großen Liegenden von Hans Josephsohn, die ihren Kopf auf den rechten Arm aufgestützt im abgewendeten Halbprofil zu sehen ist. Die barocke Pracht der Figur ist, wie sich an deren Oberfläche leicht ablesen lässt, aus kleinen Brocken und Fragmenten von Material geformt, das nicht geglättet wurde und in der Rohguss-Patina der Bronze einen erdhaften Charakter besitzt.(Abb.16)

Ob mir Hans Josephsohn den Ausschnitt verzeiht? Er hat Abbildungen von Details seiner Werke rigoros abgelehnt. Für ihn musste sich die Skulptur als Ganzes bewähren. Sie war ihm eine Analogie zum ganzen Menschen, dessen Persönlichkeit – so sehr sie auf individuellen Merkmalen beruht – sich ebenso wenig in ihre Details zerlegen lässt. Seine Werke zeichnet eine zutiefst humane Qualität aus. Es ist eine liebevolle Präzision in diesen Werken, die keinem Vorbild von Figuration folgen, vielmehr von innen heraus und völlig frei entwickelt sind. Sie sind voller Erfahrungsspuren der körperlichen und geistigen Nähe. Es ist die Erfindung der Figur mit den Mitteln der Kunst, die nicht im Verdacht steht, mit der Natur konkurrieren zu wollen. Es geht ihm um die völlig selbstverständlich erscheinende Verwandlung von Material in eine sinnlich erfahrbare und doch geistige Qualität. Josephsohn hat Archetypen des Figuralen geschaffen, die uns – frei von Pathos – und jenseits des bereits Erwarteten ebenso vertraut sind, wie sie uns in respektvoller Distanz vor dem Individuum fremd bleiben.
Zur Kontextabhängigkeit des Kunstwerkes zählt gewiss, dass sich seine Ambivalenz in wechselnden Situationen darstellen kann.(Abb.17) Das scharfe Licht der flach einfallenden, winterlichen Morgensonne betont in diesem Fall die Zeichnung der Skulptur, ihre Umrisslinien und die aufgebrochene Struktur ihrer Oberfläche. Die Trennung einzelner Volumina erscheint hier betont, die Figur als Summe abstrakter Formen. Wie anders wirkt dieselbe Skulptur bei spätherbstlichem Regenwetter mit nass glänzender Oberfläche.(Abb.18) Hier binden sich die Details zu einem ganzheitlichen Volumen zusammen, das als körperliche Masse von Material und viel mehr noch als geformte Gestalt mit einer fast erotischen Qualität aufscheint. Mit den wechselnden Lichtreflexen der metallischen Oberfläche scheint die ruhende Figur in dieser Situation ganz lebendig.

Die offene Form im Umgang mit dem geschichteten Material, die den Maler Eugène Leroy mit dem Bildhauer Hans Josephsohn verbindet, stellt sich keinesfalls als Attitüde dar. Vielmehr zeigt sich darin eine wesentliche künstlerische Haltung, die Erarbeitung der Form über das Material. Als Betrachter ermöglicht sie uns die Recherche des Werkprozesses und seiner Entscheidungen. Hier sehen wir Josephsohn (ganz rechts am Bildrand) in seinem Züricher Atelier, das man stets mit von Gips weiß bestaubter Hose verließ.(Abb.19) Es war eine Werkstatt, in der Josephsohn einen Großteil seiner Zeit damit verbracht hat, auf die unterschiedlichen Zustände von Werken zu schauen und immer wieder in bereits geformte Volumen einzugreifen, abzuschlagen und anzufügen, um der angestrebten Ganzheit näher zu kommen. Die Arbeit galt nicht der Nachahmung des Figurativen, sondern der grundlegenden Neuschöpfung. Das scheint mir ein grundsätzliches Anliegen von Kunst zu sein. »Kunst ist Form gewordenes Spiel mit Inhalten. Sie ist Spiel, weil sie es sich leistet, nicht nach vorgegebenen äußeren Kriterien zu funktionieren, sondern ihre eigenen Regeln aufzustellen und nach inneren Gesetzmäßigkeiten zu fragen. Sie ist Form, da nur über die Form eine Mitteilbarkeit von Inhalten zu erreichen ist. Um Form zu werden, ist das Kunstwerk auf Material angewiesen. Material ist alles, was unseren Sinnen zugänglich ist, Worte, Klänge, Bewegungen, Bilder, Stoffe usw. Erst die Form verwandelt das Material in Kunst. Diese Wandlung geschieht nicht zufällig, sondern folgt intuitiven oder bewusst gesetzten Entscheidungen und subjektiven Handlungen des Künstlers, die meist als Erfahrungen der Reduktion von Möglichkeiten über Jahre hinweg erarbeitet und präzisiert werden und gleichwohl das Prinzip des Zufalls beinhalten können. Die Wandlung des Materials in Kunst ist weder planbar noch wiederholbar. Sie stellt sich als Kongruenz von Form, Material und Inhalt ein. Diese Kongruenz bildet eine offene und ambivalente Sinn­struktur.«(8) Am Beispiel von Cimabues Kreuzigung (1280–1283) aus der Oberkirche von Assisi, die als eine der wenigen Referenzen im Atelier von Hans Josephsohn als großes verblichenes Foto an der Wand hing, zeigt sich, welcher Grad der Abstraktion des Figurativen für ihn vorbildlich war. In dieser Tradition hat sich Josephsohn aufgehalten, es liegt an uns, ihm darin zu folgen. Auf die Frage, wann denn die »Große Liegende«, die wir für den Hof von Kolumba ausgewählt hatten, entstanden sei, meinte er: »Schreiben sie abgeschlossen 2000«. Nicht einmal er wollte sich festlegen, wie lange er wirklich daran gearbeitet hat. Es wäre mehr als wünschenswert, wenn das Museum diesen Kontakt zur Werkstatt des Künstlers, zu seinen Referenzen und zum prozesshaften Entstehen von Kunst wachhält. Das kann weder illustrativ noch imitierend der Fall sein, denn der öffentliche Raum des Museums ist mit dem privaten Raum des Ateliers prinzipiell nicht zu verwechseln, deshalb wollen wir nach Möglichkeiten einer Übersetzung fragen, die zu solchen Einsichten führen könnten.

Mit dem Ausblick in den Hof von Kolumba ergibt sich erneut eine Korrespondenz zu der Situation des Waldspaziergangs.(Abb.20) Denn mit den elf Bäumen, die dort stehen, verbindet sich – zumindest bei gutem Wetter – die unausgesprochene Einladung, sich dort niederzulassen und auszuruhen. Bereits im Foyer kann sich mittels dieser Verführung die Erwartung an eine konventionelle Museumssituation verwandeln, können sich beiläufige Beobachtungen in den Vordergrund drängen und die Zeit vergessen lassen. Es erscheint mir gegenüber Bücherständen, Informationstafeln und Ausgabetheken kostenloser Audioguides die weitaus bessere Einstimmung in eine Begegnung mit Kunst zu sein, vor dem Hintergrund der Durchlässigkeit, die wir benötigen, um wahrnehmen zu können, und – unser Thema weiterverfolgend – um Ästhetik als Seelsorge wirksam werden zu lassen. Das Museum stellt dabei nur ein Angebot dar, sich mit gelassener Nachdenklichkeit mit Inhalten zu befassen, die als Ergebnisse eigener Kreativität Auskunft über die menschliche Existenz geben.

Wie sich die Eindrücke in den gestellten Kontexten miteinander verbinden, muss jeder Besucher für sich selbst entscheiden. Und doch wird man sich auf dem Rundgang durch Kolumba dem vor einigen Jahren in unsere Sammlung neu hinzu gekommenen Christus in der Rast kaum entziehen können.(Abb.21) Bezeichnenderweise wird gerade an einem solchen Hauptwerk eindrucksvoll deutlich, dass sich die Frage nach der »Christlichen Kunst« nicht stellt, vermutlich nie gestellt hat, zumindest aber, dass sie nicht weiterführt. Denn seine an antiken Vorbildern der Melancholia orientierte Haltung leistet eine im anthropologischen Sinne erlebbare und verständliche Geste. Zwar gehört der rastende Christus zur Passionsgeschichte, doch wird die Episode des Rastens »auf dem kalten Stein« in den Evangelien nicht erwähnt. Die Entstehung des Bildes beruht auf der mystischen Frömmigkeit, die die Einsamkeit, Nacktheit und Verzweiflung Christi auf seinem Leidensweg nachvollziehen möchte.

Beim Eintreten schaut man zunächst auf die vollplastisch durchgestaltete Rückenansicht der Skulptur.(Abb.22) Das gibt dem Motiv des in seiner Nacktheit allen Blicken ausgelieferten Menschen nicht nur einen Moment der Intimität. Vielmehr lädt es dazu ein, um die Skulptur herumzugehen und festzustellen, dass sich hinter dem naturalistischen Eindruck des Sitzenden eine aus jeder Perspektive sich anders darstellende Tektonik des Sitzens selbst zeigt, die – vergleichbar zu Josephsohns Werken – fast geometrisch streng entwickelt wurde und Grundformen von Quadrat und Dreieck, bzw. von Kubus und Tetraeder subtil variiert. Kunst offenbart sich auch hier als komponier­e Gegennatur, als eine unabdingbare Form der Übersetzung von Natur.

Bei genauer Betrachtung wird zudem deutlich, dass der Begriff der Rast in diesem Fall nicht wörtlich zu nehmen ist.(Abb.23) Denn der ganze Körper und alle Gliedmaßen sind in einer Anspannung gehalten, die jeden Muskel betrifft. Selbst der auf die Hand gestützte Kopf ruht nicht in dieser. Die Fingerspitzen berühren lediglich die Wange, was mich weit mehr daran erinnert, wie man mit dem Streichen der Hand jemanden tröstet. Dieser Mensch rastet nicht, er erwartet in der nächsten Sekunde den Fortgang einer Handlung, der er ausgeliefert ist. Selten ist mir die Radikalität deutlicher geworden, mit der Kunst imstande ist, unsere blanke Existenz ins Bild zu setzen. Zurückgeworfen auf sich selbst und in völliger Nacktheit aller Dekoration entblößt, begegnen wir in dieser Skulptur dem Menschsein jenseits historischer Zusammenhänge, wir begegnen darin uns selbst.
Es liegt nahe, dass der Ausdruck der absoluten Verlorenheit dieses Menschen nicht durch ein Zuviel im Raum behindert werden darf, will man die Skulptur nicht auf ein kunsthistorisch bedeutendes, museales Objekt reduzieren.(Abb.24) Die Gegenüberstellung in der vergangenen Jahresausstellung über das Erzählen in der die ich hier als Beispiel zeige, fiel dementsprechend reduziert aus und lenkt den Blick auf eine gerahmte Arbeit auf Papier.(Abb.25) Auf den ersten Blick erkennen wir darauf die Silhouette eines gehörnten Tieres, einem Widder ähnlich, gemalt in schwarz­brauner Farbe, die einen fetthaltigen Rand um die Kontur der Pinselstriche gebildet hat. Aus dem Tierkörper wachsen zwei Bleistiftlinien heraus, die sich zu einer Pflanze entwickeln, die zarte Knospen treibt. Sie wächst durch einen Kopf hindurch, der mit wenigen Strichen und dennoch ausdrucksstark gestaltet in Richtung einer abstrakten Pinselspur blickt, die unerklärlich bleibt. In großen Druckbuchstaben gibt die Bezeichnung »Story« dem Blatt einen Titel und den Hinweis darauf, dass die beschriebene Konstellation als Geschichte zu lesen sein könnte. Tier, Mensch und Pflanze werden in dieser Geschichte in ihrer Zusammengehörigkeit gezeigt. Dem Schöpfungsthema, das damit angesprochen ist, kann man sich kaum entziehen. Der vor wenigen Jahren verstorbene Bremer Maler Norbert Schwontkowski greift hierin nicht nur oberflächlich auf Merkmale der Arbeiten auf Papier von Joseph Beuys zurück, sondern lehnt sich an dessen Ästhetik an und aktualisiert sie, um die thematische Verwandtschaft auszuloten.
Durch den Hinweis auf den Schöpfungszusammenhang ahnen Sie vermutlich bereits, dass meine Ausflüge in den Wald als Gegenbild des Musealen am heutigen Aschermittwoch der Künstler nicht nur rhetorisches Mittel sein wollen. Die Durchdringung von Natur und Kreatur in gegenseitiger Abhängigkeit und der uns rational verborgene Ursprung unserer Existenz sind ein Grundthema und Anliegen der Religion wie der Kunst. Nach Joseph Beuys sind uns die Bäume mit diesem Bewusstsein aber um Längen voraus. Ich zitiere aus einem Gespräch, das Friedhelm Mennekes 1984 mit ihm führte: »Ich bin kein Gärtner, der Bäume pflanzt, weil Bäume schön sind. Nein, ich sage, die Bäume sind heute ja viel intelligenter als die Menschen. Wenn der Wind durch die Kronen geht, dann geht zu gleicher Zeit durch die Kronen, was die leidenden Menschen an Substanz auf die Erde gebracht haben. Das heißt, die Bäume nehmen das längst wahr. Und sie sind auch schon im Zustand es Leidens. Sie sind entrechtet. Sie wissen das ganz genau, dass sie entrechtet sind. Tiere, Bäume, alles ist entrechtet. Ich möchte diese Bäume und diese Tiere rechtsfähig machen. Das ist selbstverständlich eine Pflicht des Menschen. Wenn er seine Aufgaben hier auf der Welt im Sinne des wirklichen Christentums, der wirklich christlichen Substanz, also des Sakramentes, das durch die Baumwipfel weht, wahrnimmt, dann muss er sich entsprechend verhalten. Und dann muss er seine Intelligenz, angefangen bei den Bäumen, langsam wieder aufrichten.«(9) Mennekes fragt noch einmal nach, ob der Baum auch eine Christus-Figuration sei, und Beuys fährt fort: »…die Bäume sind wichtig, um die menschliche Seele zu retten. Dieser Spinatökologismus,« – Sie verzeihen mir diesen Begriff hier in Freiburg – »der interessiert ja nicht. Die Welt kann untergehen. Die Erde kann zu Bruche gehen. Aber wenn die Erde in dem Zustand zu Bruch geht, wie sie jetzt ist, dann ist die menschliche Seele in Gefahr. Das einzige, was sich lohnt aufzurichten, ist die menschliche Seele. Ich meine jetzt ‘Seele’ im umfassenden Sinn. Ich meine jetzt nicht nur das Gefühlsmäßige, sondern auch die Erkenntniskräfte, die Fähigkeit des Denkens, der Intuition, der Inspiration, das Ich-Bewusstsein, die Willenskraft. Das sind ja alles Dinge, die sehr stark geschädigt sind in unserer Zeit.«

Wenn wir als Kunstvermittler den Künstlern darin folgen wollen, dass Ästhetik in dem von Beuys beschriebenen und umfassenden Sinn als Seelsorge verstanden werden kann, dann sollte der dafür geeignete Ort die Bereitschaft zur Selbstwahrnehmung fördern. Er sollte in unausgesprochenen Details dazu beitragen wollen, dass man durchlässiger wird für das (Nach-)Denken, für »Erkenntniskräfte der Intuition und Inspiration.« Die sich bewegenden Schattenwürfe des Blattwerks der Bäume auf dem handgestrichenen Backstein im Hof von Kolumba könnten ein solches Detail sein.(Abb.26) Es ist für uns Museumskuratoren sehr interessant zu beobachten, wie sehr sich diese von uns beobachteten Details in den Fotos der Besucher wiederfinden, z.B. bei Instagram oder Flickr, erfolgreichen Internet-Portalen, die dazu einladen, eigene Fotos in einer Community mit anderen zu teilen. »Find your inspiration«, lautet der Werbespruch eines dieser Portale. In den Aufnahmen, die zu privaten Zwecken im Haus zulässig sind, findet eine Aneignung statt, deren Intensität und individuelle Bedeutung niemand beurteilen kann.

Das Bildbeispiel führt mich zu einer Situation der Präsenz des Schattens, die in einem permanent gezeigten Hauptwerk von Kolumba eine Reihe der bisher geführten Überlegungen bündelt, insofern darin die Begegnung des Menschen mit sich selbst zum zentralen Thema wurde.(Abb.27) Dazu möchte ich noch einmal aus dem Gespräch mit Rainer Marten zitieren, der die Möglichkeiten der Selbstreflexion mit Kunst höher schätzt als die seiner eigenen Profession, der Philosophie: »Die Kunst vereint etwas in sich, was die Reflexion des Menschen auf sich selbst auf eine viel wichtigere Bahn führt als die Philosophie, die sehr oft in einer Selbstbeschau der Vernunft endet.« Die große blattgoldbelegte Wand ist Teil einer Rauminstallation, die unter dem Titel »Tragedia Civile« (Bürgerliche Tragödie) 1975 erstmals gezeigt wurde und 1982 auf der documenta zu sehen war.(Abb.28) In ihr scheint mit der Reflexion des Betrachters auch der dunkle Schatten eines schwarzen Mantels wieder, der an einem Bugholz gebogenen Garderobenständer vor der Wand hängt.(Abb.29) Hut und Mantel, die von jemandem dort hinterlassen wurden, lassen unmittelbar an den Fortgang ihres Besitzers denken, denn es hat nicht den Anschein, als würden diese abgetragenen Dinge noch einmal abgeholt werden. Der Eindruck der Abwesenheit wird durch ein brennendes Öllämpchen ergänzt oder auch gekontert, denn es lässt uns ebenso an einen Friedhof wie an den Kirchenraum denken, wo es zum Zeichen der Anwesenheit Gottes wird.
»Ich lebe in einem Land, dessen sprachliche und logische Wurzeln im Humanismus gründen und als Bürger dieses Landes stehe ich zu dieser Tradition.« In diesem kurzen Zitat von Jannis Kounellis vermittelt sich der Ausgangspunkt für die überragende Bedeutung, die er für die Kunst der Gegenwart im allgemeinen und im engeren Sinne für Kolumba hat. Kounellis war ein politischer Künstler in der Weise, dass er nicht nachließ, in seinen Werken die Existenz des Menschen in ihrer Abhängigkeit von Heimat, Wohnung, Nahrung und Arbeit ebenso zu befragen, wie ihren poetischen und intellektuellen, spirituellen und religiösen Bedürfnissen Ausdruck zu geben. In assoziativen Räumen, die er mit einfachen Materialien und gebrauchten Gegenständen eröffnet, kreist sein Werk um den Wert der Freiheit des Individuums, seine Stellung in der Gesellschaft und seine Verantwortung gegenüber der Geschichte. Erinnertes Leben, Schmerzerfahrung und vorausgeahnter Tod bilden darin Konstanten, die für das Konzept von Kolumba grundlegend wurden. Mit Jannis Kounellis verband uns seit Anfang der 1990er Jahre eine in wenigen, aber intensiven Begegnungen gewachsene Freundschaft. Er gehörte zu den Ersten, die dem »Museum der Nachdenklichkeit« ihr Vertrauen schenkten. Schon 1994 trennte er sich für Kolumba von seinem Hauptwerk, das sein Lebensthema bezeichnet. In ihm fand Kounellis zu einem ebenso stillen wie berührenden Bild der Verlusterfahrung. Der goldene Abglanz der christlich-abendländischen Tradition verbindet sich darin mit den abgenutzten Hinterlassenschaften eines bürgerlichen Lebens.

Die in der »Tragedia Civile« forcierte Gegenüberstellung von Alltagsgegenständen mit dem Glanz der Sakralität und die mehrschichtigen Bedeutungsebenen von Licht und Schatten, mit denen er darin arbeitet, führen mich erneut zu einem Gegenbild und fordern zu einem unmittelbaren Vergleich der Erlebnisqualität beider Räume auf: der Waldlandschaft und des Museums.(Abb.30) Wie steht es um die Einladung, sich ganz und gar darin aufzuhalten, neugierig zu sein oder zu werden und den eigenen Eindrücken nachzuforschen? Wie steht es um die Ambivalenz der Eindrücke und darum, wie sehr die Sinne davon eingenommen und gefordert werden? Sind Museumsräume dazu geeignet, die von Beuys reklamierten Erkenntniskräfte zur Rettung der Seele anzuregen und zu entfalten?
Diese Fragen stellen sich für Kolumba in diesem Jahr ganz besonders, da sich der Raum der permanent gezeigten »Tragedia Civile« mit der Ausstellung »Über das Individuum« noch verdichtet hat. Auf unsere Einladung hin und mit dem Wunsch einer Hommage an Jannis Kounellis zu dessen 80.Geburtstag hat der in Berlin lebende Komponist und Maler Chris Newman eine Intervention erarbeitet, die den auratischen Raum in die Haltlosigkeit überführt.(Abb.31) Unter dem Titel »Relief Behavior Option«, was mit Befreiung/ Erleichterung, Verhalten/ Benehmen, Möglichkeit/ Alternative, zu übersetzen wäre, sind wir mit fünf Videoprojektionen und vier auf dem Boden stehenden Monitoren, aber vor allem mit 27 Leinwänden konfrontiert, deren freie Hängung eine eigene, fragile Räumlichkeit entfaltet. Die von der Decke hängenden Leinwände folgen dem Grundriss dreier Zimmer der Wohnung des Künstlers und schaffen eine Architektur, deren schwebende Leichtigkeit zum begehbaren Bild eines Denkraumes wird. Die durch jeden Luftzug in Schwingung versetzte Hängung produziert eine räumliche Tiefendimension, die durch die Art der Zeichnungen gesteigert wird, mit denen die Leinwände über und über »beschrieben« sind (Abb.32). In etlichen durchscheinenden Schichten, der mit dünnen Farblagen immer wieder neu grundierten Bilder, breitet Chris Newman ein Panorama unterschiedlicher Bildebenen aus, die versatzstückartig miteinander kombiniert werden. Allein die wandbildartige Größe dieser Zeichnungen im Übergang zur Malerei ist überraschend, da sie formal an die Skizzen eines Notizblocks erinnern. Mal sehen wir einen Mann bei der Gartenarbeit, von einem Hasen begleitet, der ihm dabei zuschaut, dann eine altmodisch gekleidete Frau, die vor einem Küchentisch ein Schreiben in den Händen hält, als sei sie aus der Zeit gefallen, während im Hintergrund jemand am Klavier spielt. Auch gibt es Wiederholungen einzelner Szenen, die darauf schließen lassen, dass es neben zitierten Vorlagen auch erinnerte Bilder sein werden, die sich immer wieder einstellen. Häufiger schweift der Blick über eine am Horizont gekurvte Landstraße auf der ein Lieferwagen daher gefahren kommt. So scheinen sich Kindheitserinnerungen, Selbstbildnisse bei häuslicher Arbeit und Szenen, deren Vorbilder verschiedener Herkunft sein könnten, in einem Bildraum unterschiedlicher Zeit- und Bewusstseins­ebenen zu verbinden. Unter anderem verarbeitet Chris Newman Illustrationen aus Büchern von Ray­mond Roussel, Honoré Daumier und Beatrix Potter. Er verwendet diese geliebten Vorlagen als bloßen Stoff, der durch ihn wie durch einen Filter hindurchgegangen ist, den er zerschneidet und in Fragmenten mit anderen Stoffen wieder zusammenfügt. Steinzeitlichen Höhlenmalereien vergleichbar, dokumentiert die Installation mit ihren »Wandzeichnungen« den Zusammenhang des alltäglichen Lebens mit dem Leben kultureller und spiritueller Bedürfnisse. Newman lässt Erinnerun­gen aus den »Spinnennetzen des Bewusstseins«(11) mit Reflexionen über Kunst, Musik, Literatur sowie Geträumtes und Erdach­tes mit alltäglichen Erfahrungen von Wirklichkeit verschmelzen. Auf vier Monitoren, die bezeichnenderweise auf dem Boden stehen, kann man die Entstehung der Arbeit im Atelier verfolgen (Abb.33); ein Telefongespräch des Künstlers, seinen Gang mit der Kamera entlang aller Zimmerwände, das Grundieren der Leinwände und deren Verpackung für den Transport durch die Mitarbeiter einer Spedition. Mit seiner eigenen Ästhetik aktualisiert Newman die Frage nach der Präsenz des Metaphysischen, bzw. nach dem Verhältnis erfahrbarer Wirklichkeit zur Transzendenz. Geschieht deren Projektion bei Jannis Kounellis im Abglanz des bürgerlichen Lebens in einer vergoldeten Wand, deren Aura die Geschichte des christlichen Abendlandes atmet, so verwendet Newman die Technik der Videoprojektion, die er anstelle der Fenster seiner realen Wohnung als in Licht übersetzte Ausblicke einsetzt. Gegenüber dem statischen Bild der »Tragedia«, deren Goldwand sich faktisch mit der gebauten Architektur von Kolumba verbindet, entwirft Newman einen Raum, der sich auf reale Architektur zwar bezieht, als Denkraum aber in ständiger Bewegung bleibt. Wie bei Kounellis ist das Materielle darin auf das Notwendigste beschränkt, sind seine Mittel ebenso selbstverständlich und alltäglich wie ein Hut oder Mantel. Allerdings verzichtet Newman auf jegliche Symbolik und geht die Sache direkter an. Indem er sich buchstäblich alles von der Seele »schreibt«, realisiert er am Beispiel seiner eigenen Existenz den unendlichen Raum eines gelebten Lebens, mit dem auch die »Tragedia Civile« neu gelesen werden kann. »Die Poesie geht durch alle Künste«, sagt Rainer Marten: »Der Mensch hat mehr in sich, als er im Alltag auslebt. Die Kunst erlaubt es ihm, an seine Grenzen zu gehen. Und er geht mit etwas um, das er nicht in der Hand hat. In der Religion geschieht in dieser Weise etwas enorm Poetisches. Da muss man nicht die Seinsfrage stellen, ob es den Gott wirklich gibt.« Mit der Radikalität des Künstlers äußert sich Chris Newman ganz vergleichbar: »Man hat sein Leben nicht, man ist es. Wenn man das weiß, braucht man nicht an Gott zu denken, weil man ihm nahe ist.«(12)

Im unmittelbaren Vergleich mit dem Erfahrungsraum der Natur wird an diesem Beispiel besonders deutlich, dass das Museum mit der Gegennatur Kunst nur ein Angebot stellen darf und gut beraten ist, die Rezeption dieses Angebotes nicht vorzudenken.(Abb.34) Vielmehr erscheint mir wesentlich, dass dieses Angebot in seiner eigenen Wirklichkeit erkennbar wird, dass die Kunst darin nach ihren eigenen Bedingungen zur Wirkung kommen kann. Denn wenn es die Form ist, die Kunst zur Kunst macht, dann bedarf es unserer Aufmerksamkeit für alle Details eines Werkes und der von ihm ausgehenden Empfehlungen für eine ihm entsprechende Präsentation. Ich spreche in diesem Zusammenhang gerne von der »Aufführungsqualität« eines Kunstwerks. Dafür tragen Künstler und Kuratoren gleichermaßen die Verantwortung. Wenn mit dem Medium Kunst die Begegnung des Menschen mit sich selbst als eine Form der Seelsorge erfahren werden kann, geht dies vordringlich mit primären Erlebnismöglichkeiten einher, was sekundäre Vermittlungsformen – etwa Kurzführer oder begleitete Rundgänge – keineswegs ausschließt. Damit verbindet sich auch ein Bekenntnis zum Phänomen des ästhetischen Erlebnisses an sich, dessen unerklärlicher Kern nicht als nachteilige Eigenschaft mangelnder Aufklärung aufgefasst und durch vordergründige Information aufgefangen werden darf. Vielmehr geht es darum, der Intimität in der Rezeption von Kunst – und mit ihr allen möglichen individuellen Eindrücken – einen Raum zu geben, der Medium und Betrachter in ihrer Freiheit belässt und unbeantwortete Fragen, die sich aus der Betrachtung ergeben, als einen Gewinn und nicht als zu überbrückendes Defizit erachtet. Es lässt sich nicht vorhersagen, wann und warum eine Berührung mit einem Kunstwerk stattfindet, auf welches Detail jemand besonders reagiert und was die Neugierde auslöst. Die Formen der Aneignung sind ebenso vielfältig wie die Lebenserfahrung der Menschen und in ihrer Intensität und Nachhaltigkeit von außen nicht zu bewerten. Gerade darin besteht eine Parallele von Kunst und Religion.

Auch vermag niemand zu beurteilen, wann aus Kunstbetrachtung Andacht wird, wann das ästhetische Erlebnis in eine Form der Spiritualität übergeht und eine – wie auch immer erlebte – Erfahrung von Transzendenz damit einhergeht. Allerdings stellt ein Museum, das die Ordnung seiner Werke nicht den Kriterien der Wissenschaft unterordnet, vielmehr nach ästhetischen Gesichtspunkten erarbeitet, ein Angebot dar, das die Andacht keineswegs ausschließt. Es ist schon ein erstaunliches Detail, dass der Kopf eines monumentalen Elfenbeinkruzifixes aus der zweiten Hälfte des zwölften Jahrhunderts unter den über zweihundert Postkarten unserer Sammlung bei weitem das beliebteste Motiv ist.(Abb.35)
»Christus ist nicht tot«, schrieb mein Vorgänger Joachim Plotzek seinerzeit über dieses Kolumba identifizierende Kunstwerk (Abb.36): »Seine waagerecht ausgestreckten Arme vermitteln eher ein Schweben, und wie ein verhallendes Echo dieser sensiblen Balance des Horizontalen variieren die Wachstumslinien des Elfenbeins den vorgegebenen Eindruck und verleihen der Wölbung des Brustkorbs höchste Vitalität. Die fast senkrechte Aufsicht der parallel gesetzten Füße unterstützt mit den diagonal nach oben geführten, feingliedrigen Beinen die Leichtigkeit des Körpers und suggeriert eine die ganze Erscheinung bestimmende Schwerelosigkeit. Der Gekreuzigte schwebt vor dem Kreuz. Kein Herabhängen des sterbenden Körpers, auch kein Emporsteigen, vielmehr eine andauernde Präsenz als Balance gegenteiliger Kräfte. Losgelöst vom Kreuz, befreit von den irdischen Bedingungen, wie ohne Gewicht den Vorgaben der Schwerkraft enthoben, ereignet sich in diesem Kruzifix Heilsgeschehen als eine ins Bild geholte Erscheinung. Befreit von aller Gebundenheit vergeistigt sich die Bilderfahrung zu einer Glaubensvorstellung. Christus ist nicht tot. Der Gekreuzigte ist entschlafen. Der in diesem Wort enthaltene Gegensatz entspricht dem Wesentlichen des Gekreuzigten, der die gegensätzlichen Extreme seines menschlichen Sterbens und bleibenden göttlichen Seins in sich vereint und bewahrt. Entschlafen: dem Schlaf entrissen, nicht in den Tod hinein, sondern in ein neues, anderes Leben. – Der geöffnete Mund schweigt. Die geschlossenen Augen lenken den Blick nach innen. Die minutiös gekämmten Haare ordnen sich zu einer makellosen Frisur von großer Harmonie. Locken und Barthaar umspielen das Gesicht, das eine unendliche meditative Ruhe ausstrahlt. Es ist geradezu überströmt, wie von innen her, von einem Lächeln, das menschliche Nähe und Ferne zugleich fühlbar macht. Woher kommt dieses Lächeln, das dem Gesicht einen solchen Glanz verleiht? Jegliches Mienenspiel geht in ihm auf. Das Lächeln Gottes ist die Botschaft des ganzen Bildwerks. Es strahlt von Güte und Milde, von Weisheit und Seligkeit, Beglücktheit und Verklärtheit, von Absichtslosigkeit und Entrücktheit, ein Bild von Schönheit und Freiheit – und von beseelender Nähe. Ein künstlerischer Blick auf das Heilsgeschehen, bei dem der Körper des Gekreuzigten als Topographie der Erlösung und des Transitorischen gestaltet ist. In solcher Bildsprache des Körpers liegt die Metaphysik des romanischen Elfenbeinkruzifixes. Es wird als Bild der Andacht zum Spiegel einer nicht auslotbaren Vorstellung des Jenseits.«(13)

Am Ende meines Vortrags möchte ich auf Herbert Falken zurückkommen. Sie sehen hier seine großen Zeichnungen aus dem Spätwerk in der Ausstellung »Art is Liturgy.« (Abb.36) Auch dieser Titel ist ein radikales Künstlerzitat. Der Amerikaner Paul Thek (1933–1988) äußerte es 1973 in einem Gespräch mit Harald Szeemann: »Kunst ist Liturgie; und wenn das Publikum auf den heiligen Charakter der Symbole reagiert, dann hoffe ich, dass ich mein Ziel erreicht habe, wenigstens in jenem Moment.«(14) Thek war im Jahr zuvor mit einer umfangreichen Installation Teilnehmer der Documenta 5, die mit dem Begriff der »Individuellen Mythologien« in die Kunstgeschichte einging und ein Bewusstsein für Spiritualität und Transzendenz in der zeitgenössischen Kunst entwickelte. Wenn man Theks Gedanken konsequent weiterführt, wird uns die Aufführungsqualität von Kunstwerken noch bewusster, denn ohne Inszenierung geschieht kein öffentliches Zeigen. Es macht auch deutlich, dass eine nach ästhetischen Gesichtspunkten entfaltete Ordnung im Museum ebenso unerlässlich ist, wie im Kirchenraum. Wie verhält sich Kunst zur Liturgie, die sich selbst aller künstlerischer Mittel bedient, der Sprache, der Gesten, der Bilder, des Klangs usw.? »Vor Gott ein Spiel zu treiben, ein Werk der Kunst – nicht zu schaffen, sondern zu sein, das ist das innerste Wesen der Liturgie«, schrieb Romano Guardini 1918.(15) Welche Impulse für die Kunst können ihrer zweitausendjährigen Tradition zugeschrieben werden? Welche Impulse kann die Kunst der Liturgie geben?(16)

Die seit 1990 entstandenen Studien zu Michelangelo und seine späten unbetitelten Zeichnungen gehören zu den schönsten Werkgruppen, die wir seit 1993 im Atelier von Herbert Falken für Kolumba auswählen durften.(Abb.38) Anlässlich seines 80. Geburtstages konnten wir vor einigen Jahren mit diesen großen Kohlezeichnungen seine Werkentwicklung der vergangenen fünfundzwanzig Jahre ausbreiten. Falken führt das Thema des leidenden Menschen von einer expressiven, nahezu bildhauerischen Wucht zu einer immer feineren Askese der Linien, die die Figuration in die Transzendenz überführt. Die Linie wird zum Protokoll einer Begegnung mit dem menschlichen Körper, den er gleichermaßen fasst, umschreibt und auflöst. Er geht an die Grenze dessen, was er selbst als Merkmal der Kunst definiert hat, denn er modelliert den Auflösungsprozess der Form. »Ich möchte meine Bilder an der Erlebnistiefe meiner Träume messen, ohne dass sie diese zu illustrieren suchen. Das, was ich mache, dient mir als Lebens- und Überlebenshilfe. Und wie schön wäre es, wenn dies auch für andere sein könnte«, so Falken 1999. »Was ich in der Klausur meiner Werkstatt erlebe, könnte exemplarisch sein für alle, auch und gerade für uns in der heutigen Kirche in unserer heutigen Zeit. Meine Stoßseufzer als Künstler, als Christ und auch als Pastor sind dieselben: Wenn sich nur leichter die Nacht zum Tag wandeln ließe! ‘Es werde Licht!’ Dieses erhellende Schöpfungswort hat jedoch nicht der Mensch zu sprechen, sondern Gott.«(17)
Nicht wir entscheiden, ob und wann sich im Dialog mit Kunst eine spirituelle Erfahrung einstellt und wir in einem ästhetischen Moment in uns selbst der Religion, dem Glauben begegnen. Aber als Kuratoren können wir im Umgang mit Kunst und nach deren Aufführungsqualität fragend die Bedingungen dafür schärfen, räumlich, zeitlich, kontextuell. Es liegt auf der Hand, dass der Architektur daher eine besondere Bedeutung beikommt. Mit dem Potential der Kunst zur Seelsorge ist Ästhetik abhängig von Faktoren, die dazu beitragen das freie Spiel der Reflexion zu öffnen, etwa Raum, Proportion, Maß, Material, Licht, Klang, Nähe und Ferne. Dann könnte sich für den Einzelnen eine Erfahrung einstellen, deren Qualität ich zum Ende meines Vortrags nur unzulänglich mit einigen Begriffen von den Rändern des Spirituellen, sagen wir von den Zipfeln einer großen Decke her, umschreiben kann, etwa Nachdenklichkeit, Sinnlichkeit, Freude, Trauer, Körperlichkeit, Respekt, Liebe, Zeit und Wirklichkeit. Denken Sie bei diesen Begriffen nicht an das Museum als Abziehbild des weitläufigen Kulturbetriebes. Denken sie an die Räume Ihrer Erinnerung und ihrer Phantasie, ihres Glaubens und ihrer Wünsche; denken sie zurück an den Wald; denken sie – durchaus mit kritischem Blick – an den Zustand unserer Kindergärten und Schulen, denken sie an die Ordnung unserer Kirchenräume, denken Sie an deren Ausstattung, an alle Details der Liturgie.

Wir müssen uns mit diesen Stichworten auseinandersetzen, wenn wir Bilder und Räume unseres Glaubens aktualisieren und der Kunst eine Chance geben wollen, in unserer gegenwärtigen gesellschaftlichen und politischen Verfassung wirksam zu werden. Was Kunst und Religion verbindet, ist die Verweigerung gegenüber dem Zweck, der Effizienz, der Quantifizierung und Ökonomisierung in einer säkularen Welt. Anhand der Begriffe, die den spirituellen Impuls von den Rändern her einkreisen, wird deutlich, dass ihre Wirksamkeit nicht messbar ist. Denn Kunst und Religion verbindet die Möglichkeit, Bereiche in Erfahrung zu bringen, von denen wir wissen, dass sie uns kognitiv nicht zugänglich sind. Sie verbindet die Arbeit in den Zwischenräumen unserer Existenz, in den Nischen der Poesie, die wir aufsuchen, um unser Sein bewältigen zu können. Geben wir der Ästhetik als einer zeitgemäßen Form der Seelsorge eine Chance!

Mit einem Text des Komponisten, Musikers und Dichters Manos Tsangaris, im Bild bei einer Performance vor Werken von Her­bert Falken, möchte ich schließen.(Abb.39) Er fordert uns dazu auf, der Durchlässigkeit des Unfertigen zu begegnen:(18)

Lassen Sie
Lassen Sie unfinished
Lassen Sie es durch
Lassen Sie es zu dass es
durchkommt Lassen Sie
zu dass es durchlässig
ist nicht so fertig
nicht zu fertig
nicht so fertig
bisschen unfertig
bisschen unfertig schön,
schön
und schon vorbei
das ist doch besser
das ist besser
besser das
Unfertige durchlassen das
Selber durchlässig sein
und nicht diese völlig
fertige abgepackte überall
gegenwärtige Undurchlässigkeit
das abgesicherte wasserdichte
völlig fertige gefinishte und Schluss?
Schluss mit dem Ende der
Durchlässigkeit Unfertigkeit
:Alle Fertigkeit daran gesetzt
getan gelassen getan
dass ein bisschen ein klein wenig unfertiges
Getriebe weset im Gewerke wirken alle
Meisterhaftigkeiten lächerlich und blöde fertig
angesichts des Werdens

angesichts des Werdens deines Mundes
angesichts des Werdens deines Geistes
angesichts des Werdens deines Herzens
angesichts des Werdens deiner vorläufigen
Vollendung vorläufigen Vollkommenheit
die unfertig ist, unfertig, unfinished.
Nicht zu finished bitte.
alles wird.
Die Himmlische Reise
Die Himmlische Reise
Die Himmlische Reise
Das Ziel ist kein Weg.
Der Weg ist kein Ende.
Das Ende kein Ziel.
Utopia kein Retro.

Das himmlische Reich ist
mitten unter uns unfinished ist
die himmlische Stadt ins Universum
fortgeflogen Feiert! Fliegt da fliegt sie noch
unfinished ist die himmlische Stadt
die himmlische Stadt inmitten, unfinished.
mitten im Munde teilt das Wort die Zeit
Zwei Lippen berühren einander In der Mitte des
Mundes teilt das Wort die Zeit

Lassen Sie
Lassen Sie unfinished
Lassen Sie es durch
Lassen Sie es zu dass es
durchkommt Lassen Sie
zu dass es durchlässig
ist nicht so fertig
nicht zu
nicht so fertig
bisschen unfertig
bisschen unfertig

schön

und schon vorbei


* veröffentlicht als: Freiburger Impulse. Kunst Kultur Kirche, Bd.1,
für das Erzbistum Freiburg hg. von Peter Stengele, Freiburg 5/2018
© Text und Fotos: Stefan Kraus, Köln

Anmerkungen:
(1) Ohne Zeichnen fällt mir nichts ein. Stefan Kraus und Philipp Wittmann im Gespräch mit Herbert Falken, 3.11.1995, in: Herbert Falken. Arbeiten der 70er und 80er Jahre (= Kolumba Bd.1), Köln 1996, S.46
(2) Herbert Falken, Zehn Gebote für einen christlichen Künstler, in: Philipp Boonen (Hg.), Herbert Falken. Ecce Homo – Bilder zu Krankheit und Tod, (Aachener Beiträge zu Pastoral und Bildungsfragen) Aachen 1975, S.13
(3) Zwischen Glauben und Kunst – Eine Gratwanderung. Josef Herberg im Gespräch mit Herbert Falken, in: Albert Gerhards (Hg.), Die Chance im Konflikt. Der Maler Herbert Falken und die Theologie, Regens­burg 1999, S.136
(4) zit. nach: Konstanze Crüwell, Worte sind im Museum genauso überflüssig wie im Konzertsaal. Eine Hommage an Georg Swarzenski, Köln 2015
(5) Alfred Lichtwark, Übungen in der Betrachtung von Kunstwerken [1902], Hamburg 1986, S.35f.
(6) Stefan Kraus, Der ästhetische Augenblick. Versuch über die Sprachlosigkeit, Vortrag beim Aschermittwoch der Künstler, Köln 25.2.2009, in: Schwarz auf Weiß, hg. von Josef Sauerborn, 13.2009, S.8–20
(7) Das wunderbarste und schrecklichste Wesen. Interview mit Rainer Marten, in: Badische Zeitung, 16.1.2009
(8) Stefan Kraus, Formate bestimmen die Inhalte. Kunstbetrieb Kunst Kunstvermittlung (= Absender Wewerka-Archiv Bd.1), Berlin 2016, S.43
(9) zit. nach: Joseph Beuys/Bernhard J. Blume, Gespräche über Bäume, Wangen 1994, S.114-115
(10) Jannis Kounellis 1990 im Gespräch mit Wim Beeren, zit. nach: Katharina Winnekes, Jannis Kounellis. Tragedia Civile (= Kolumba Bd.44), Köln 2016, S.51
(11) vgl.: Stefan Kraus, Aus den Spinnennetzen des Bewusstseins. Interview mit Chris Newman, in: Christliche Ikonographie auf dem Prüfstand, Kunst und Kirche, 3.1994, S.185-188
(12) Chris Newman 1999 im Gespräch mit dem Autor.
(13) Joachim M.Plotzek, in: Auswahl zwei (= Kolumba Bd.35), Köln 2010, S.132
(14) zit. nach: Katharina Winnekes, Life is like a Bowl of Cherries. Biographie und Sammlungskatalog, in: Paul Thek. Shrine (= Kolumba Bd.38) Köln 2012, S.437
(15) Romano Guardini, Vom Geist der Liturgie [1919], Freiburg 1991, S.89-105
(16) Das war die Fragestellung der Jahresausstellung: Art is Liturgy. Paul Thek und die Anderen, Kolumba, 15.9.2012 – 18.8.2013, und der darin eingewobenen Sonderausstellung: trotz Natur und Augenschein. Eucharistie – Wandlung und Weltsicht, Kolumba, 30.5. – 18.8.2013 (vgl. das dazu erschienene Buch mit gleichem Titel, hg. von Ulrike Surmann und Johannes Schröer).
(17) Herbert Falken, Karsamstags-Bilder. Der Konflikt zwischen Denken und Sehen, in: Albert Gerhards (Hg.), siehe Anm.3, S.156/158
(18) zuerst veröffentlicht in: Auswahl zwei (= Kolumba Bd.35), Köln 2010, S.73–76; Wiederabdruck in: Manos Tsangaris, Unbekannte Empfänger. Gedichte, Stuttgart 2017, S.13-14
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www.kolumba.de

KOLUMBA :: Texte :: Ästhetik und Seelsorge (2017)

Stefan Kraus
»Das Thema christliche Kunst ist abgehakt"
Überlegungen zum Verhältnis von Ästhetik und Seelsorge

Vortrag beim Aschermittwoch der Künstler
Katholische Akademie, Freiburg 1.März 2017 *

Sehr geehrter Herr Erzbischof,
lieber Pfarrer Stengele, meine Damen und Herren,
Sie werden es an den Anführungszeichen bemerkt haben: Den Titel meines Vortrags »Das Thema christliche Kunst ist abgehakt« habe ich mir geborgt. Er dient mir, um beim eingefahrenen Thema Kunst und Kirche schneller voran zu kommen, als Einstieg in Überlegungen zum Verhältnis von Ästhetik und Seelsorge. Die entschiedene Absage an das, was wir für “Christliche Kunst” halten könnten, geht auf Herbert Falken zurück, den nunmehr 84jährigen Künstler und Priester, dessen Werk viele von Ihnen kennen werden und der in der Sammlung von Kolumba einen der monographischen Schwerpunkte setzt. | Sie sehen ihn hier mit dem für ihn typischen skeptischen Blick in seinem Atelier in der Nähe von Düren (Abb.1). Im Hintergrund befindet sich auf einer Staffelei eines seiner frühen Gemälde, bezeichnenderweise ohne Titel, aus dem Jahre 1967. Ich möchte Ihnen den Kontext, dem ich den Titel meines Vortrags entnommen habe, nicht vorenthalten: »Das Thema christliche Kunst ist abgehakt«, so Herbert Falken. »Ich mache keine christliche Kunst. Was die Kunst zur Kunst macht, ist nicht das Christliche, sondern die Form. Das christliche Thema malen auch die Kinder in der Schule. Wenn man christliche Kunst sagt, sagt man, es gäbe einen Unterschied zur Kunst.« Das Zitat ist nicht von heute, es stammt aus einem Gespräch, das ich vor zweiundzwanzig Jahren mit ihm führen durfte.(1)

Als Künstler und als Geistlicher ist Herbert Falken in zweifacher Hinsicht Seelsorger. Geboren 1932 und 1964 zum Priester geweiht, erhielt er seinen lebenslangen Impuls durch den Geist des Zweiten Vatikanischen Konzils, das 1965 mit der Pastoralkonstitution »Gaudium et Spes« (Freude und Hoffnung) zu Ende ging. Dessen Grundanliegen, das »Aggiornamento« der Kirche, wurde für Falken zum Auftrag, sich gerade auch mit Blick auf die Kunst, radikal der Gegenwart anzuschließen. Die erstaunliche Karriere des an seinen beiden Berufungen stets Zweifelnden, führte ihn 1977 zur Teilnahme an der Documenta in Kassel und 1998 zur Verleihung der Ehrendoktorwürde der Theologischen Fakultät der Universität Bonn. Seine Entschiedenheit in der Ablehnung vorgedachter Begriffe einer sogenannt christlichen Kunst geht weit zurück. Schon 1975 stellte er »Zehn Gebote für einen christlichen Künstler«, aber vor allem wohl für sich selbst auf. Darin heißt es zuerst: »Du sollst keine christliche Kunst machen wollen.« (2) Er hat dieses selbstauferlegte Gebot vor einigen Jahren noch einmal bestätigt und ausgeführt: »Ja, man darf keine christliche Kunst machen wollen. Aber das können Sie auch auf die religiöse Kunst erweitern. Wenn Sie das Gewicht auf das Wollen, auf diesen Vorsatz legen, bin ich auch mit der Version einverstanden. Alles Gewollte ist nichts. […] Wenn ich meinen Glauben malen will, ist es aus, brauche ich gar nicht erst anzufangen. Aber wenn ich etwas mache, und mein Glaube schwingt im Unterbewusstsein oder in der zeitweiligen Reflexion mit rein, dann ist es richtig – für mich jedenfalls.«(3)

Da wird mit Blick auf das Verhältnis von Kunst und Religion und dem Zweifel am Gewollten eine Skepsis gegenüber dem bereits Erwarteten deutlich. Herbert Falken beschreibt die Gefahr, dass wir alle meinen zu wissen, wie unser Glaube ausschaut, zu welchen Bildern er findet, und dass wir dadurch die eigentlich wesentlichen, weil authentischen Bilder verpassen könnten. In unserem Kontext ist Falkens Absage umso gravierender, als hier der Seelsorger spricht, also einer, der in seinen beiden Berufungen, um sein und unser Seelenheil ringt. Als Gott-Suchender reklamiert er die Unzulänglichkeit, in der Kunst nur die Bestätigung dessen zu sehen, worauf wir uns als modifiziertes Vokabular einer tradierten christlichen Ikonographie verständigt haben. Mit seinem Bild von 1967, das zweifellos Anregungen des spanischen Malers Antonio Tápies sowie der Künstler der Art Brut verarbeitet, steht Falken am Anfang einer künstlerischen Auseinandersetzung mit der Tradition des Christusbildes auf der Suche nach neuen Ausdrucksformen. Die Farben mit Sand vermischt, an rote Erde ebenso wie an graue Asche erinnernd, sucht er eine extreme Materialität auf, um das Christusbild aus dem Klischee, in die es das 19.Jahrhundert hineingeführt hatte, herauszulösen und in eine irdische Wirklichkeit zurückzuholen. Falken zeichnet seinen Christus in das Material hinein, wie etwas Vorläufiges, das man in den Sand ritzt – etwa am Strand, wissend, dass es Sekunden später mit der nächsten Welle fortgespült werden wird. Erst zwei Jahre später entstand unter dem Titel »Scandalum Crucis« eine ganze Serie von Christus-Bildern, mit denen Herbert Falken überregional bekannt werden sollte.

»Was die Kunst zur Kunst macht,« so Falken, »ist nicht das Christliche, sondern die Form.« Dies soll der Ausgangspunkt meiner Überlegungen zum Verhältnis von Ästhetik und Seelsorge sein. Denn wenn es die Form ist, die die Kunst zur Kunst macht, dann bedingt es die Ästhetik, darüber zu entscheiden. Als Museumskurator und als Kunstvermittler werde ich nicht von der Theorie der Ästhetik sprechen, sondern von deren Praxis, der griechischen “Aisthesis”, der Wahrnehmung und Empfindung im Sinne einer Lehre der Anschauung. Ich kreise dabei um den Ort, der für sich reklamiert als Museion – als Heiligtum der Musen – der ideale Ort für Kunst zu sein, was es zu überprüfen gilt. Wie wird das Museum zu einer Schule des Sehens? Und wie könnte die Wahrnehmung von Kunst darin als Seelsorge wirksam werden?

Dazu möchte ich Sie – Falkens Zweifel am bereits Erwarteten folgend – auf einen Spaziergang einladen, der mit Gegenbildern arbeitet. Vergessen Sie für diesen Moment einmal alles, was Sie mit dem Begriff Museum verbinden. Ich lade Sie dazu ein, sich den Museumsbesuch als einen Waldspaziergang vorzustellen. (Abb.2) Dieses Gegenbild ist uns allen vertraut, das Bildbeispiel mit den Schneeresten könnte in der näheren Umgebung von Freiburg erst vor einigen Tagen entstanden sein. Den Wald erfahren wir als eine Quelle der Regeneration, deren eigentliche Ursache wir kaum durchschauen. Die einzelnen Details dieses Erfahrungsraumes – Bäume, Gräser, Licht und Schatten, Luft, Bewegung – vermögen nicht zu erklären, weshalb uns der Aufenthalt im Wald stärkt. In der Regel werden wir unsere Erwartung an die mit dem Waldspaziergang verbundene Erholung bestätigt finden und gleichzeitig doch immer mit unerwarteten Eindrücken zurückkehren, die das Besondere ausmachen und die uns gerade deshalb bereichern.

Zugegeben, gegenüber der lebendigen und dennoch Ruhe stiftenden Vielfalt des Waldes ist die Situation vor der Mona Lisa, dem wohl berühmtesten Bild der Kunstgeschichte, ein gemeines Gegenbild.(Abb.3) Es ist Ausdruck einer Rezeption von Kultur, die dem Fast-Food gleicht und mit der Quantifizierung des Tourismus einhergeht. Was kann der Louvre dafür, dass fast jeder Paris-Besucher meint, Leonardos berühmtes Bildnis gesehen haben zu müssen? Wobei das Sehen selbst Nebensache zu sein scheint, denn in der Hauptsache geht es offenbar darum, dort gewesen zu sein und seine Anwesenheit vor dem Original mittels des Smartphones zu dokumentieren bzw. zu übermitteln. Eines der bedeutendsten Museen der Welt verkommt an dieser zentralen Stelle zum Erfüllungsgehilfen von Erwartungen, denn mit der Authentizität des Gemäldes bestätigt es die Authentizität eines längst vorgedachten Momentes, der im Augenblick der Begegnung bereits abgehakt werden kann. Es sei kritisch angemerkt, dass sich das Museum perfekt in diese Rolle fügt, indem es den Besucher mit einem Beschilderungssystem ab der Kasse präzise dorthin leitet. Wäre es den versammelten Werken dieser einmaligen Gemäldegalerie nicht weit angemessener, genau darauf zu verzichten und den Besucher dazu einzuladen, auf seiner Suche nach dem einen erwarteten Bild, anderen Werken zu begegnen und diese wertzuschätzen? Wäre die Suche selbst nicht eine Einladung dazu, sich der Neugierde als einer Voraussetzung des erkennenden Sehens von Kunst bewusst zu werden?

Ein weiteres Bildbeispiel, in diesem Fall aus dem Getty-Museum in Los Angeles (Abb.4), könnte in fast jedem anderen Museum entstanden sein, da es stellvertretend für eine Situation steht, ohne die wir offenbar meinen, uns ein Museum nicht vorstellen zu können: die Führung. Es ist die allgemeine Erwartungshaltung, dass Kunst im Museum erklärt werden muss, sei es in Beschriftungsschildchen, Erläuterungstafeln, Saalzetteln, Kurzführern oder geführten Rundgängen. »Worte sind im Museum genauso überflüssig wie im Konzertsaal«, möchte ich demgegenüber den legendären Frankfurter Museumsdirektor Georg Swarzenski zitieren,(4) ohne dies ausführen zu können. Es würde mich zu weit von dem gestellten Thema entfernen, wollte ich versuchen, auf diesen Umstand genauer einzugehen. Daher dient mir als Abkürzung der Wald erneut als Gegenbild.

Denn warum erfreut mich der Aufenthalt im Wald, der Blick auf Bäume, Unterholz und Lichtungen, ohne dass ihn mir jemand erklären müsste? Was nicht heißt, dass eine Führung im Wald – wie im Museum – durchaus ihren Sinn haben kann, indem sie meine Kenntnis über Zusammenhänge und Hintergründe erweitert. Doch wird dadurch das Erlebnis Wald in seiner Intensität gesteigert? Wird meine Freude größer, wenn mir jemand den Wald erklärt? Gerade darin sind sich Kunst und Natur sehr verwandt. Es waren die Künstler – denken Sie an Paul Klee –, die die Kunst mit dem Begriff der »Gegennatur« bezeichnet haben. Warum dann der ganze Vermittlungsaufwand im Museum? Ist es nicht vielmehr so, dass Erklärungen im Moment des Erlebens geradezu störend wirken, weil sie dem Moment eine Metaebene verleihen, mit der die Unmittelbarkeit der Empfindung eingeschränkt wird? »Wissen, das man nicht brauchen lernt oder überhaupt nicht brauchen kann, ist in künstlerischen Dingen so überflüssig wie überall und oft geradezu schädlich,« schrieb Alfred Lichtwark, der erste deutsche Museumspädagoge im Jahre 1902, »denn, an sich eine unfruchtbare Sache, hat es die Tendenz, steril zu machen, namentlich das gelernte, nicht selbst erworbene Wissen. Was bei der Betrachtung des Kunstwerkes an Wissen und Erkenntnis nötig wird, sollte stets entwickelt, nie mitgeteilt werden. […] Es muss immerwährend mit dem Auge gearbeitet werden.«(5)

Wenn also Ästhetik der Maßstab für die Wirksamkeit des Kunstwerkes ist, dann scheitert das Museum in vielen Fällen noch bevor ein Zuviel an Vermittlung das subjektive Erlebnis verhindert. Denn von der Disposition der Werke und der Detailtreue im Umgang mit ihnen hängt es ab, ob sich das Potential der Kunst überhaupt entfalten kann. Wer das MoMA vor seiner Erweiterung und Neueröffnung im Jahr 2004 gekannt hat, wird sich daran erinnern, dass Monets meditatives Seerosen-Panorama gegenüber der bodentiefen Fensterreihe hing, die den Raum zum Skulpturengarten hin öffnete, ihm Tageslicht und mit der Verbindung zum Garten auch Ruhe gab. Die neue Situation wirkt demgegenüber wie das verlängerte Museumsfoyer, als Durchgangsraum ein Ort der Bewegung, der selbst durch Barnett Newmans »Broken Obelisc« nicht zur Ruhe kommen kann.(Abb.5) Der Informationsständer mit dem Hinweis auf Führungen ist an dieser Stelle in der Nähe zum Werk als unfreiwillig humorvolle Wiederholung der Stele natürlich genauso fehl am Platz wie die Infotafeln, Schriftenstände oder Yucca Palmen in unseren Kirchen.

Ist es nicht erstaunlich, dass mir der Blick in den Wald zuweilen das Bild einer größeren Ordnung vermittelt? (Abb.6) Wobei ich den Wald präziser als Forst bezeichnen muss, da es sich – in Analogie zum Museum – ja keineswegs um einen sich selbst überlassenen Urwald handelt, sondern um einen sehr bewusst gehegten und vom Menschen gestalteten Wirtschaftsraum. Als habe jemand die einzelnen Baumstämme genau an ihren jeweiligen Ort gestellt, damit ich ein Verhältnis von Nähe und Ferne finden, Vordergrund und Hintergrund voneinander unterscheiden kann und den Baum vor lauter Bäumen dennoch finde. Nach diesen einführenden Überlegungen möchte ich Sie immer wieder an die Frage der Wirkmächtigkeit von Kunst zurückführen und dabei das Thema einer Verbindung von Ästhetik und Seelsorge nicht aus den Augen verlieren. Ich möchte Sie dazu einladen, sich von Erwartungen frei zu machen, sich neugierig und bereit, der Begegnung mit dem Unerwarteten, dem Unbekannten zu öffnen.

Möglicherweise sind wir mit den Gegenbildern des Waldes schon ein wenig besser darauf vorbereitet, die Inszenierung von Kunst auf uns wirken zu lassen. Im konkreten Fall begegnen uns darin zweiundzwanzig auf Thronen sitzende Steinfiguren in verschiedenen Posen und unterschieden durch Kleidung und Attribute.(Abb.7) In der Aufstellung sind Nähe und Ferne offensichtlich berücksichtigt, soll durch den Abstand und die verschiedenen Blickwinkel die Individualität des Einzelnen innerhalb der zusammengehörigen Werkgruppe eine Berücksichtigung finden. Noch bevor wir uns mit Wissensfragen beschäftigen, könnte daher die Faszination darin bestehen, von Figur zu Figur zu gehen, sich wandelnd im Raum aufzuhalten, um eigene Beobachtungen ihrer Verschiedenartigkeit zu sammeln und persönliche Favoriten zu entdecken.(Abb.8)
Wir befinden uns im größten Ausstellungsraum von Kolumba in der Bespielung von 2016 bis 2017 mit den Archivoltenfiguren vom Petersportal der Kathedrale, einer großartigen Leih­gabe der Kölner Domkirche. Der trapezförmige, sich zu mehreren Seiten hin öffnende Grundriss des Raumes und sein durch wandgroße Fenster aus verschiedenen Richtungen einfallendes Tageslicht, das im Tagesverlauf mit den Volumen der Skulpturen spielt, legt die feldartige Ausbreitung dieser Versammlung von Historischen Personen, Heiligen, Prophe­ten und Engeln nahe, zumindest aber ermöglicht der Raum die Umsetzung dieser Idee.

Es ist das räumliche Zentrum unserer Jahresausstellung »Über das Individuum«, weshalb uns die Begegnung mit der Feinheit dieser herausragenden Werke des ausgehenden 14.Jahrhunderts auf Augenhöhe mit dem Betrachter angebracht und wesentlich erschien. Wir erleben dadurch nicht nur die ursprüngliche Qualität der Skulpturen, sondern – wie häufig bei musealen Objekten – auch die Spuren der Zeit; Spuren ihrer mehrere Jahrhunderte währenden Aufstellung im einzig mittelalterlichen Portal, der erst im 19.Jahrhundert vollendeten Kathedrale; im Petersportal des bis dahin unvollendeten Nordturms waren sie fast sechs Jahrhunderte lang der Witterung ausgesetzt, bis sie Ende der 1970er Jahre durch Kopien an Ort und Stelle ersetzt wurden. Liegt es an unserer durch die Kunst nach 1945 geschulten Ästhetik, dass wir die Spuren der Zerstörung nicht als Mangel, sondern fast als eine Art der würdevollen Auszeichnung empfinden? Sind sie uns mit den Spuren des Verfalls nicht weitaus näher, und werden gerade durch diese zu Zeugen der Geschichte?

Sie entschuldigen bitte meine Penetranz, mit er ich das Gegenbild des Waldes immer wieder strapaziere, aber ich möchte den Versuch dieser Gegenüberstellung wagen, um meine These zu überprüfen, ob man sich den Museumsbesuch wie einen Waldspaziergang vorstellen kann.(Abb.9) An diesem aufgeschichteten Stapel geschnittener Baumstämme finden sich die Spuren der Arbeit, die es gemacht haben wird, sie alle auf die gleiche Länge zu sägen. Es entwickelt sich an diesem banalen Detail, dass hier im rechten Licht erscheint, eine Geschichte, die sich mir aufgrund eigener Beobachtungen in Teilen erschließt. Aber was macht die offenbar gesprayte Markierung dort? Welche Bedeutung verbirgt sich hinter dem kreisrunden Zeichen? Hat es ökonomische Hintergründe, bezogen auf Eigentum oder den Abtransport des Stapels und gibt es in der Umgebung Wiederholungen, die ein System ergeben könnten? Warum dieses strahlende Blau, hätte es jede andere Farbe sein können? Die sich ergebenden Fragen müssen keine Beantwortung finden. Sie sind mir als Fragen gut genug, denn vermutlich ist meine Phantasie reicher als der vermutlich banale Hintergrund des Zeichens.
Zurück im Museum sind es wiederum die aus der Nähe betrachteten Details, an die ich anknüpfen möchte.(Abb.10) Wir wandern über eine Struktur satter Pinselstriche und sind demjenigen, der sie gesetzt hat, der den Pinsel in der Hand hielt, bei dieser nachschöpfenden Beobachtung ganz nah, können sein Temperament verfolgen, seine Entscheidungen in Frage stellen, uns in den Malprozess vertiefen. Die vermeintliche Beliebigkeit dieser Struktur wird sich bei ausdauernder Betrachtung immer weiter ordnen, bis sich spätestens mit der Übersicht, dem Blick auf das ganze Gemälde, der Eindruck einer mit jedem einzelnen Pinselstrich – wohl mehr intuitiv als kognitiv – sehr bewusst gesetzten Malweise einstellt. (Abb.11)
Die derart mit dem Pinsel strukturierte Ölfarbe gibt sich in der Ganzaufnahme des Gemäldes als Figuration eines offensichtlich schreitenden Menschen zu erkennen, der weniger aus der Kontur heraus geformt wurde, als aus der physischen Masse des Materials. Der Maler belässt die Körperlichkeit der Figur in einer Unschärfe, die vom Betrachter weitergedacht werden muss, um dem Menschen eine Persönlichkeit zu verleihen, deren Eigenschaften an die gewählten Farben und deren Setzungen gebunden sind. Es ist dieser Umweg über den Betrachter, der dahin führt, dem Menschen ein anthropologisch und damit allgemein wie individuell erlebbares Bild seiner selbst zu geben.

Es ist nicht allein das Schreitmotiv der dargestellten Figur im Gemälde von Eugène Leroy, die es mit dem Schreitmotiv des Kindes der Muttergottes von Jeremias Geisselbrunn verbinden.(Abb.12) Die Geste der Berührung, die wir in den Pinselspuren des Malers so unmittelbar erleben konnten, ist hier Gegenstand der Darstellung. Maria führt den Christusknaben mit lockerer Hand, während er sich mit seiner Rech­en an ihrem Nacken festhält. Das freie Bewegungsmotiv der jungen Mutter und ihres Kindes und die da­mit erreichte Lebendigkeit ist ein wesentliches Merkmal dieser barocken Skulptur vom Marienaltar aus St.Kolumba, die im Zweiten Weltkrieg zerstört wurde und erst Anfang der 1990er Jahre in mühsamer Arbeit aus siebzig Fragmenten wieder zusammengefügt werden konnte. Auch hier sprechen die Spuren der Zerstörung eine ganz eigene Sprache.

Die Wegführung solcher Überlegungen ist abhängig vom Kontext. Eine Möglichkeit des Zeigens von Dingen ohne Kontexte besteht ohnehin nicht, denn alles Wahrgenommene steht ja in Kontexten. Auch die Situation, die uns hier beim Aschermittwoch im Moment verbindet ist ein Kontext der voller Bedingungen steckt, die dazu beitragen können, dass die vorgedachte Situation eines Vortrags mit Lichtbildern gelingt oder scheitert. Das mag in diesem Fall nicht so wesentlich sein, allenfalls für Sie oder für mich erfreulich oder ärgerlich und ist dann vermutlich schnell wieder vergessen. Sofern aber Ästhetik ein Leitfaden des Museums sein soll, es seinen Auftrag als »Schule des Sehens« erfüllen möchte, ist die Wahl der Kontexte genau zu bedenken. In diesem Fall sind es wenige Werke, die sich als Angebot im Raum versammelt finden. Vielleicht fühlt man sich durch diese Reduktion eher dazu eingeladen, sich mit dem Vorhandenen zu beschäftigen und nach etwaigen Parallelen zu forschen. Die dezentrale Anordnung der wenigen Werke empfiehlt den Vollzug einer Bewe­gung im Raum, die immer wieder andere Perspektiven ermöglicht. Der gebührende Abstand zueinander lässt ihnen einerseits genug Raum, um für sich wirken zu können, andererseits bietet er die Möglichkeit, Verbindungslinien zu schlagen, die von ästhetischen Merkmalen angestoßen werden, um zu inhaltlichen Überlegungen zu führen. Wobei diese Abfolge in Frage zu stellen ist, denn vermutlich ist es eher so, das die Ästhetik selbst Inhalt ist. Wie im Landschaftsraum hängt jedenfalls einiges davon ab, welche Fokussierung man wählt.

Das Erlebnis der Kunst ist eine Frage des Zwischenraums. Genau genommen entsteht die Kunst erst in diesem Zwischenraum: dem Zwischenraum der Werke zueinander, der eine Disposition für den Abstand des Betrachters zu den Werken stellt. In diesem Zwischenraum und mit der Fokussierung auf das, was einen als Betrachter ganz subjektiv interessieren könnte, verwandelt sich das Material zu dem, was Kunst ausmacht. Es sind daher die eigenen Entdeckungen, die zu ermöglichen das Anliegen einer Ausstellung sein sollte.(Abb.13) In ihnen verbirgt sich das Potential der Wirksamkeit von Kunst. Hierin gleicht der Blick des Betrachters dem des Künstlers, der am eigenen Werk die Verwandlung von Material in Kunst erlebt.(6)

Gegenüber dem Kleinen sinnierenden Akt, dessen Bewegungsmotiv in den entschiedenen und strichartig gesetzten Pinselstrichen eine Entsprechung findet, bleibt die Figur im »Nächtlichen Akt« mittels der reliefartig geschichteten und miteinander verwobenen Farbmaterie geheimnisvoller und stiller.(Abb.14) Nur schwer lässt sich die Kontur einer Halbfigur, die in der rechten Bildhälfte in leichter Aufsicht dargestellt ist, aus der räumlich indifferent bleibenden Farbmasse herauslösen. Ihre Darstellung bleibt in Haltung und Perspektive auch bei langer Betrachtung uneindeutig. Ganz offensichtlich ist die Unschärfe hier ein wesentlicher Teil des Ausdrucks. Das gegenüber dem schreitenden Akt zwanzig Jahre frühere Bild gibt Auskunft darüber, wie kontinuierlich sich der Maler mit diesen Möglichkeiten des Zeigens und Verbergens beschäftigt hat, wie sehr es sein Anliegen gewesen ist, dem Respekt vor der fragilen Sphäre des Individuums mit den Mitteln der Malerei einen adäquaten künstlerischen Ausdruck zu geben. Es ist eines der kennzeichnenden Merkmale der Malerei von Eugène Leroy, dass die Farbe den Körper seiner Akte moduliert, sie dabei aber stets mehr zu verhüllen scheint, als preiszugeben. Wenn vorhin die Rede davon war, dass Kunst erst im Zwischenraum von Werk und Betrachter entsteht, dann geschieht dies über ein Sehen, dass durch die Erinnerung bereichert wird. Erinnerungen des Malers, mit der die erarbeitete Form des Werkes offenbar gesättigt ist, sowie die Erinnerungen des Betrachters, der mit seiner Lebenserfahrung darauf zu reagieren vermag. In Vorbereitung auf diesen Vortrag stieß ich auf einen Gedanken des Freiburger Philosophen Rainer Marten, der die Abhängigkeit von Sinnlichkeit und Spiritualität, von Materialität und Transzendenz, von Körper-Erfahrung und Vergeistigung beschreibt: »Die Sensibilität des Künstlers vergeistigt die Dinge. Er macht aus allem etwas und wenn er das Besondere auf die Spitze treibt, wird es exemplarisch. Aber die Vergeistigung gründet immer in der Sinnlichkeit – bis zum Körpergedächtnis.”(7) Was für ein schöner Begriff: das Körpergedächtnis. Es bringt die nicht kognitiven Anteile in der Begegnung mit Kunst auf den Punkt. Die Unschärfe des Kunstwerkes, die ich als Teil seiner Qualität lieber mit dem Begriff der »Präzisen Ambivalenz« bezeichnen möchte, wird hier zur Voraussetzung dafür, dass sich der Betrachter selbst einbringen kann, um das Kunstwerk auch mittels seines Körpergedächtnisses in einem von ihm empfundenen Sinne und nur für den jeweiligen Moment vollenden zu können.

Solche Nachbarschaften von Werken, deren Wahrnehmung sich steigert, müssen sich nicht unmittelbar ergeben, sie können im Kontext des Kunstmuseums auch in räumlich-zeitlicher Folge stattfinden. In der diesjährigen Präsentation in Kolumba kann der Besucher einem vergleichbaren Detail und einer vergleichbaren künstlerischen Haltung bereits begegnet sein.(Abb.15) Denn im Hof von Kolumba schauen wir auf das Detail der Großen Liegenden von Hans Josephsohn, die ihren Kopf auf den rechten Arm aufgestützt im abgewendeten Halbprofil zu sehen ist. Die barocke Pracht der Figur ist, wie sich an deren Oberfläche leicht ablesen lässt, aus kleinen Brocken und Fragmenten von Material geformt, das nicht geglättet wurde und in der Rohguss-Patina der Bronze einen erdhaften Charakter besitzt.(Abb.16)

Ob mir Hans Josephsohn den Ausschnitt verzeiht? Er hat Abbildungen von Details seiner Werke rigoros abgelehnt. Für ihn musste sich die Skulptur als Ganzes bewähren. Sie war ihm eine Analogie zum ganzen Menschen, dessen Persönlichkeit – so sehr sie auf individuellen Merkmalen beruht – sich ebenso wenig in ihre Details zerlegen lässt. Seine Werke zeichnet eine zutiefst humane Qualität aus. Es ist eine liebevolle Präzision in diesen Werken, die keinem Vorbild von Figuration folgen, vielmehr von innen heraus und völlig frei entwickelt sind. Sie sind voller Erfahrungsspuren der körperlichen und geistigen Nähe. Es ist die Erfindung der Figur mit den Mitteln der Kunst, die nicht im Verdacht steht, mit der Natur konkurrieren zu wollen. Es geht ihm um die völlig selbstverständlich erscheinende Verwandlung von Material in eine sinnlich erfahrbare und doch geistige Qualität. Josephsohn hat Archetypen des Figuralen geschaffen, die uns – frei von Pathos – und jenseits des bereits Erwarteten ebenso vertraut sind, wie sie uns in respektvoller Distanz vor dem Individuum fremd bleiben.
Zur Kontextabhängigkeit des Kunstwerkes zählt gewiss, dass sich seine Ambivalenz in wechselnden Situationen darstellen kann.(Abb.17) Das scharfe Licht der flach einfallenden, winterlichen Morgensonne betont in diesem Fall die Zeichnung der Skulptur, ihre Umrisslinien und die aufgebrochene Struktur ihrer Oberfläche. Die Trennung einzelner Volumina erscheint hier betont, die Figur als Summe abstrakter Formen. Wie anders wirkt dieselbe Skulptur bei spätherbstlichem Regenwetter mit nass glänzender Oberfläche.(Abb.18) Hier binden sich die Details zu einem ganzheitlichen Volumen zusammen, das als körperliche Masse von Material und viel mehr noch als geformte Gestalt mit einer fast erotischen Qualität aufscheint. Mit den wechselnden Lichtreflexen der metallischen Oberfläche scheint die ruhende Figur in dieser Situation ganz lebendig.

Die offene Form im Umgang mit dem geschichteten Material, die den Maler Eugène Leroy mit dem Bildhauer Hans Josephsohn verbindet, stellt sich keinesfalls als Attitüde dar. Vielmehr zeigt sich darin eine wesentliche künstlerische Haltung, die Erarbeitung der Form über das Material. Als Betrachter ermöglicht sie uns die Recherche des Werkprozesses und seiner Entscheidungen. Hier sehen wir Josephsohn (ganz rechts am Bildrand) in seinem Züricher Atelier, das man stets mit von Gips weiß bestaubter Hose verließ.(Abb.19) Es war eine Werkstatt, in der Josephsohn einen Großteil seiner Zeit damit verbracht hat, auf die unterschiedlichen Zustände von Werken zu schauen und immer wieder in bereits geformte Volumen einzugreifen, abzuschlagen und anzufügen, um der angestrebten Ganzheit näher zu kommen. Die Arbeit galt nicht der Nachahmung des Figurativen, sondern der grundlegenden Neuschöpfung. Das scheint mir ein grundsätzliches Anliegen von Kunst zu sein. »Kunst ist Form gewordenes Spiel mit Inhalten. Sie ist Spiel, weil sie es sich leistet, nicht nach vorgegebenen äußeren Kriterien zu funktionieren, sondern ihre eigenen Regeln aufzustellen und nach inneren Gesetzmäßigkeiten zu fragen. Sie ist Form, da nur über die Form eine Mitteilbarkeit von Inhalten zu erreichen ist. Um Form zu werden, ist das Kunstwerk auf Material angewiesen. Material ist alles, was unseren Sinnen zugänglich ist, Worte, Klänge, Bewegungen, Bilder, Stoffe usw. Erst die Form verwandelt das Material in Kunst. Diese Wandlung geschieht nicht zufällig, sondern folgt intuitiven oder bewusst gesetzten Entscheidungen und subjektiven Handlungen des Künstlers, die meist als Erfahrungen der Reduktion von Möglichkeiten über Jahre hinweg erarbeitet und präzisiert werden und gleichwohl das Prinzip des Zufalls beinhalten können. Die Wandlung des Materials in Kunst ist weder planbar noch wiederholbar. Sie stellt sich als Kongruenz von Form, Material und Inhalt ein. Diese Kongruenz bildet eine offene und ambivalente Sinn­struktur.«(8) Am Beispiel von Cimabues Kreuzigung (1280–1283) aus der Oberkirche von Assisi, die als eine der wenigen Referenzen im Atelier von Hans Josephsohn als großes verblichenes Foto an der Wand hing, zeigt sich, welcher Grad der Abstraktion des Figurativen für ihn vorbildlich war. In dieser Tradition hat sich Josephsohn aufgehalten, es liegt an uns, ihm darin zu folgen. Auf die Frage, wann denn die »Große Liegende«, die wir für den Hof von Kolumba ausgewählt hatten, entstanden sei, meinte er: »Schreiben sie abgeschlossen 2000«. Nicht einmal er wollte sich festlegen, wie lange er wirklich daran gearbeitet hat. Es wäre mehr als wünschenswert, wenn das Museum diesen Kontakt zur Werkstatt des Künstlers, zu seinen Referenzen und zum prozesshaften Entstehen von Kunst wachhält. Das kann weder illustrativ noch imitierend der Fall sein, denn der öffentliche Raum des Museums ist mit dem privaten Raum des Ateliers prinzipiell nicht zu verwechseln, deshalb wollen wir nach Möglichkeiten einer Übersetzung fragen, die zu solchen Einsichten führen könnten.

Mit dem Ausblick in den Hof von Kolumba ergibt sich erneut eine Korrespondenz zu der Situation des Waldspaziergangs.(Abb.20) Denn mit den elf Bäumen, die dort stehen, verbindet sich – zumindest bei gutem Wetter – die unausgesprochene Einladung, sich dort niederzulassen und auszuruhen. Bereits im Foyer kann sich mittels dieser Verführung die Erwartung an eine konventionelle Museumssituation verwandeln, können sich beiläufige Beobachtungen in den Vordergrund drängen und die Zeit vergessen lassen. Es erscheint mir gegenüber Bücherständen, Informationstafeln und Ausgabetheken kostenloser Audioguides die weitaus bessere Einstimmung in eine Begegnung mit Kunst zu sein, vor dem Hintergrund der Durchlässigkeit, die wir benötigen, um wahrnehmen zu können, und – unser Thema weiterverfolgend – um Ästhetik als Seelsorge wirksam werden zu lassen. Das Museum stellt dabei nur ein Angebot dar, sich mit gelassener Nachdenklichkeit mit Inhalten zu befassen, die als Ergebnisse eigener Kreativität Auskunft über die menschliche Existenz geben.

Wie sich die Eindrücke in den gestellten Kontexten miteinander verbinden, muss jeder Besucher für sich selbst entscheiden. Und doch wird man sich auf dem Rundgang durch Kolumba dem vor einigen Jahren in unsere Sammlung neu hinzu gekommenen Christus in der Rast kaum entziehen können.(Abb.21) Bezeichnenderweise wird gerade an einem solchen Hauptwerk eindrucksvoll deutlich, dass sich die Frage nach der »Christlichen Kunst« nicht stellt, vermutlich nie gestellt hat, zumindest aber, dass sie nicht weiterführt. Denn seine an antiken Vorbildern der Melancholia orientierte Haltung leistet eine im anthropologischen Sinne erlebbare und verständliche Geste. Zwar gehört der rastende Christus zur Passionsgeschichte, doch wird die Episode des Rastens »auf dem kalten Stein« in den Evangelien nicht erwähnt. Die Entstehung des Bildes beruht auf der mystischen Frömmigkeit, die die Einsamkeit, Nacktheit und Verzweiflung Christi auf seinem Leidensweg nachvollziehen möchte.

Beim Eintreten schaut man zunächst auf die vollplastisch durchgestaltete Rückenansicht der Skulptur.(Abb.22) Das gibt dem Motiv des in seiner Nacktheit allen Blicken ausgelieferten Menschen nicht nur einen Moment der Intimität. Vielmehr lädt es dazu ein, um die Skulptur herumzugehen und festzustellen, dass sich hinter dem naturalistischen Eindruck des Sitzenden eine aus jeder Perspektive sich anders darstellende Tektonik des Sitzens selbst zeigt, die – vergleichbar zu Josephsohns Werken – fast geometrisch streng entwickelt wurde und Grundformen von Quadrat und Dreieck, bzw. von Kubus und Tetraeder subtil variiert. Kunst offenbart sich auch hier als komponier­e Gegennatur, als eine unabdingbare Form der Übersetzung von Natur.

Bei genauer Betrachtung wird zudem deutlich, dass der Begriff der Rast in diesem Fall nicht wörtlich zu nehmen ist.(Abb.23) Denn der ganze Körper und alle Gliedmaßen sind in einer Anspannung gehalten, die jeden Muskel betrifft. Selbst der auf die Hand gestützte Kopf ruht nicht in dieser. Die Fingerspitzen berühren lediglich die Wange, was mich weit mehr daran erinnert, wie man mit dem Streichen der Hand jemanden tröstet. Dieser Mensch rastet nicht, er erwartet in der nächsten Sekunde den Fortgang einer Handlung, der er ausgeliefert ist. Selten ist mir die Radikalität deutlicher geworden, mit der Kunst imstande ist, unsere blanke Existenz ins Bild zu setzen. Zurückgeworfen auf sich selbst und in völliger Nacktheit aller Dekoration entblößt, begegnen wir in dieser Skulptur dem Menschsein jenseits historischer Zusammenhänge, wir begegnen darin uns selbst.
Es liegt nahe, dass der Ausdruck der absoluten Verlorenheit dieses Menschen nicht durch ein Zuviel im Raum behindert werden darf, will man die Skulptur nicht auf ein kunsthistorisch bedeutendes, museales Objekt reduzieren.(Abb.24) Die Gegenüberstellung in der vergangenen Jahresausstellung über das Erzählen in der die ich hier als Beispiel zeige, fiel dementsprechend reduziert aus und lenkt den Blick auf eine gerahmte Arbeit auf Papier.(Abb.25) Auf den ersten Blick erkennen wir darauf die Silhouette eines gehörnten Tieres, einem Widder ähnlich, gemalt in schwarz­brauner Farbe, die einen fetthaltigen Rand um die Kontur der Pinselstriche gebildet hat. Aus dem Tierkörper wachsen zwei Bleistiftlinien heraus, die sich zu einer Pflanze entwickeln, die zarte Knospen treibt. Sie wächst durch einen Kopf hindurch, der mit wenigen Strichen und dennoch ausdrucksstark gestaltet in Richtung einer abstrakten Pinselspur blickt, die unerklärlich bleibt. In großen Druckbuchstaben gibt die Bezeichnung »Story« dem Blatt einen Titel und den Hinweis darauf, dass die beschriebene Konstellation als Geschichte zu lesen sein könnte. Tier, Mensch und Pflanze werden in dieser Geschichte in ihrer Zusammengehörigkeit gezeigt. Dem Schöpfungsthema, das damit angesprochen ist, kann man sich kaum entziehen. Der vor wenigen Jahren verstorbene Bremer Maler Norbert Schwontkowski greift hierin nicht nur oberflächlich auf Merkmale der Arbeiten auf Papier von Joseph Beuys zurück, sondern lehnt sich an dessen Ästhetik an und aktualisiert sie, um die thematische Verwandtschaft auszuloten.
Durch den Hinweis auf den Schöpfungszusammenhang ahnen Sie vermutlich bereits, dass meine Ausflüge in den Wald als Gegenbild des Musealen am heutigen Aschermittwoch der Künstler nicht nur rhetorisches Mittel sein wollen. Die Durchdringung von Natur und Kreatur in gegenseitiger Abhängigkeit und der uns rational verborgene Ursprung unserer Existenz sind ein Grundthema und Anliegen der Religion wie der Kunst. Nach Joseph Beuys sind uns die Bäume mit diesem Bewusstsein aber um Längen voraus. Ich zitiere aus einem Gespräch, das Friedhelm Mennekes 1984 mit ihm führte: »Ich bin kein Gärtner, der Bäume pflanzt, weil Bäume schön sind. Nein, ich sage, die Bäume sind heute ja viel intelligenter als die Menschen. Wenn der Wind durch die Kronen geht, dann geht zu gleicher Zeit durch die Kronen, was die leidenden Menschen an Substanz auf die Erde gebracht haben. Das heißt, die Bäume nehmen das längst wahr. Und sie sind auch schon im Zustand es Leidens. Sie sind entrechtet. Sie wissen das ganz genau, dass sie entrechtet sind. Tiere, Bäume, alles ist entrechtet. Ich möchte diese Bäume und diese Tiere rechtsfähig machen. Das ist selbstverständlich eine Pflicht des Menschen. Wenn er seine Aufgaben hier auf der Welt im Sinne des wirklichen Christentums, der wirklich christlichen Substanz, also des Sakramentes, das durch die Baumwipfel weht, wahrnimmt, dann muss er sich entsprechend verhalten. Und dann muss er seine Intelligenz, angefangen bei den Bäumen, langsam wieder aufrichten.«(9) Mennekes fragt noch einmal nach, ob der Baum auch eine Christus-Figuration sei, und Beuys fährt fort: »…die Bäume sind wichtig, um die menschliche Seele zu retten. Dieser Spinatökologismus,« – Sie verzeihen mir diesen Begriff hier in Freiburg – »der interessiert ja nicht. Die Welt kann untergehen. Die Erde kann zu Bruche gehen. Aber wenn die Erde in dem Zustand zu Bruch geht, wie sie jetzt ist, dann ist die menschliche Seele in Gefahr. Das einzige, was sich lohnt aufzurichten, ist die menschliche Seele. Ich meine jetzt ‘Seele’ im umfassenden Sinn. Ich meine jetzt nicht nur das Gefühlsmäßige, sondern auch die Erkenntniskräfte, die Fähigkeit des Denkens, der Intuition, der Inspiration, das Ich-Bewusstsein, die Willenskraft. Das sind ja alles Dinge, die sehr stark geschädigt sind in unserer Zeit.«

Wenn wir als Kunstvermittler den Künstlern darin folgen wollen, dass Ästhetik in dem von Beuys beschriebenen und umfassenden Sinn als Seelsorge verstanden werden kann, dann sollte der dafür geeignete Ort die Bereitschaft zur Selbstwahrnehmung fördern. Er sollte in unausgesprochenen Details dazu beitragen wollen, dass man durchlässiger wird für das (Nach-)Denken, für »Erkenntniskräfte der Intuition und Inspiration.« Die sich bewegenden Schattenwürfe des Blattwerks der Bäume auf dem handgestrichenen Backstein im Hof von Kolumba könnten ein solches Detail sein.(Abb.26) Es ist für uns Museumskuratoren sehr interessant zu beobachten, wie sehr sich diese von uns beobachteten Details in den Fotos der Besucher wiederfinden, z.B. bei Instagram oder Flickr, erfolgreichen Internet-Portalen, die dazu einladen, eigene Fotos in einer Community mit anderen zu teilen. »Find your inspiration«, lautet der Werbespruch eines dieser Portale. In den Aufnahmen, die zu privaten Zwecken im Haus zulässig sind, findet eine Aneignung statt, deren Intensität und individuelle Bedeutung niemand beurteilen kann.

Das Bildbeispiel führt mich zu einer Situation der Präsenz des Schattens, die in einem permanent gezeigten Hauptwerk von Kolumba eine Reihe der bisher geführten Überlegungen bündelt, insofern darin die Begegnung des Menschen mit sich selbst zum zentralen Thema wurde.(Abb.27) Dazu möchte ich noch einmal aus dem Gespräch mit Rainer Marten zitieren, der die Möglichkeiten der Selbstreflexion mit Kunst höher schätzt als die seiner eigenen Profession, der Philosophie: »Die Kunst vereint etwas in sich, was die Reflexion des Menschen auf sich selbst auf eine viel wichtigere Bahn führt als die Philosophie, die sehr oft in einer Selbstbeschau der Vernunft endet.« Die große blattgoldbelegte Wand ist Teil einer Rauminstallation, die unter dem Titel »Tragedia Civile« (Bürgerliche Tragödie) 1975 erstmals gezeigt wurde und 1982 auf der documenta zu sehen war.(Abb.28) In ihr scheint mit der Reflexion des Betrachters auch der dunkle Schatten eines schwarzen Mantels wieder, der an einem Bugholz gebogenen Garderobenständer vor der Wand hängt.(Abb.29) Hut und Mantel, die von jemandem dort hinterlassen wurden, lassen unmittelbar an den Fortgang ihres Besitzers denken, denn es hat nicht den Anschein, als würden diese abgetragenen Dinge noch einmal abgeholt werden. Der Eindruck der Abwesenheit wird durch ein brennendes Öllämpchen ergänzt oder auch gekontert, denn es lässt uns ebenso an einen Friedhof wie an den Kirchenraum denken, wo es zum Zeichen der Anwesenheit Gottes wird.
»Ich lebe in einem Land, dessen sprachliche und logische Wurzeln im Humanismus gründen und als Bürger dieses Landes stehe ich zu dieser Tradition.« In diesem kurzen Zitat von Jannis Kounellis vermittelt sich der Ausgangspunkt für die überragende Bedeutung, die er für die Kunst der Gegenwart im allgemeinen und im engeren Sinne für Kolumba hat. Kounellis war ein politischer Künstler in der Weise, dass er nicht nachließ, in seinen Werken die Existenz des Menschen in ihrer Abhängigkeit von Heimat, Wohnung, Nahrung und Arbeit ebenso zu befragen, wie ihren poetischen und intellektuellen, spirituellen und religiösen Bedürfnissen Ausdruck zu geben. In assoziativen Räumen, die er mit einfachen Materialien und gebrauchten Gegenständen eröffnet, kreist sein Werk um den Wert der Freiheit des Individuums, seine Stellung in der Gesellschaft und seine Verantwortung gegenüber der Geschichte. Erinnertes Leben, Schmerzerfahrung und vorausgeahnter Tod bilden darin Konstanten, die für das Konzept von Kolumba grundlegend wurden. Mit Jannis Kounellis verband uns seit Anfang der 1990er Jahre eine in wenigen, aber intensiven Begegnungen gewachsene Freundschaft. Er gehörte zu den Ersten, die dem »Museum der Nachdenklichkeit« ihr Vertrauen schenkten. Schon 1994 trennte er sich für Kolumba von seinem Hauptwerk, das sein Lebensthema bezeichnet. In ihm fand Kounellis zu einem ebenso stillen wie berührenden Bild der Verlusterfahrung. Der goldene Abglanz der christlich-abendländischen Tradition verbindet sich darin mit den abgenutzten Hinterlassenschaften eines bürgerlichen Lebens.

Die in der »Tragedia Civile« forcierte Gegenüberstellung von Alltagsgegenständen mit dem Glanz der Sakralität und die mehrschichtigen Bedeutungsebenen von Licht und Schatten, mit denen er darin arbeitet, führen mich erneut zu einem Gegenbild und fordern zu einem unmittelbaren Vergleich der Erlebnisqualität beider Räume auf: der Waldlandschaft und des Museums.(Abb.30) Wie steht es um die Einladung, sich ganz und gar darin aufzuhalten, neugierig zu sein oder zu werden und den eigenen Eindrücken nachzuforschen? Wie steht es um die Ambivalenz der Eindrücke und darum, wie sehr die Sinne davon eingenommen und gefordert werden? Sind Museumsräume dazu geeignet, die von Beuys reklamierten Erkenntniskräfte zur Rettung der Seele anzuregen und zu entfalten?
Diese Fragen stellen sich für Kolumba in diesem Jahr ganz besonders, da sich der Raum der permanent gezeigten »Tragedia Civile« mit der Ausstellung »Über das Individuum« noch verdichtet hat. Auf unsere Einladung hin und mit dem Wunsch einer Hommage an Jannis Kounellis zu dessen 80.Geburtstag hat der in Berlin lebende Komponist und Maler Chris Newman eine Intervention erarbeitet, die den auratischen Raum in die Haltlosigkeit überführt.(Abb.31) Unter dem Titel »Relief Behavior Option«, was mit Befreiung/ Erleichterung, Verhalten/ Benehmen, Möglichkeit/ Alternative, zu übersetzen wäre, sind wir mit fünf Videoprojektionen und vier auf dem Boden stehenden Monitoren, aber vor allem mit 27 Leinwänden konfrontiert, deren freie Hängung eine eigene, fragile Räumlichkeit entfaltet. Die von der Decke hängenden Leinwände folgen dem Grundriss dreier Zimmer der Wohnung des Künstlers und schaffen eine Architektur, deren schwebende Leichtigkeit zum begehbaren Bild eines Denkraumes wird. Die durch jeden Luftzug in Schwingung versetzte Hängung produziert eine räumliche Tiefendimension, die durch die Art der Zeichnungen gesteigert wird, mit denen die Leinwände über und über »beschrieben« sind (Abb.32). In etlichen durchscheinenden Schichten, der mit dünnen Farblagen immer wieder neu grundierten Bilder, breitet Chris Newman ein Panorama unterschiedlicher Bildebenen aus, die versatzstückartig miteinander kombiniert werden. Allein die wandbildartige Größe dieser Zeichnungen im Übergang zur Malerei ist überraschend, da sie formal an die Skizzen eines Notizblocks erinnern. Mal sehen wir einen Mann bei der Gartenarbeit, von einem Hasen begleitet, der ihm dabei zuschaut, dann eine altmodisch gekleidete Frau, die vor einem Küchentisch ein Schreiben in den Händen hält, als sei sie aus der Zeit gefallen, während im Hintergrund jemand am Klavier spielt. Auch gibt es Wiederholungen einzelner Szenen, die darauf schließen lassen, dass es neben zitierten Vorlagen auch erinnerte Bilder sein werden, die sich immer wieder einstellen. Häufiger schweift der Blick über eine am Horizont gekurvte Landstraße auf der ein Lieferwagen daher gefahren kommt. So scheinen sich Kindheitserinnerungen, Selbstbildnisse bei häuslicher Arbeit und Szenen, deren Vorbilder verschiedener Herkunft sein könnten, in einem Bildraum unterschiedlicher Zeit- und Bewusstseins­ebenen zu verbinden. Unter anderem verarbeitet Chris Newman Illustrationen aus Büchern von Ray­mond Roussel, Honoré Daumier und Beatrix Potter. Er verwendet diese geliebten Vorlagen als bloßen Stoff, der durch ihn wie durch einen Filter hindurchgegangen ist, den er zerschneidet und in Fragmenten mit anderen Stoffen wieder zusammenfügt. Steinzeitlichen Höhlenmalereien vergleichbar, dokumentiert die Installation mit ihren »Wandzeichnungen« den Zusammenhang des alltäglichen Lebens mit dem Leben kultureller und spiritueller Bedürfnisse. Newman lässt Erinnerun­gen aus den »Spinnennetzen des Bewusstseins«(11) mit Reflexionen über Kunst, Musik, Literatur sowie Geträumtes und Erdach­tes mit alltäglichen Erfahrungen von Wirklichkeit verschmelzen. Auf vier Monitoren, die bezeichnenderweise auf dem Boden stehen, kann man die Entstehung der Arbeit im Atelier verfolgen (Abb.33); ein Telefongespräch des Künstlers, seinen Gang mit der Kamera entlang aller Zimmerwände, das Grundieren der Leinwände und deren Verpackung für den Transport durch die Mitarbeiter einer Spedition. Mit seiner eigenen Ästhetik aktualisiert Newman die Frage nach der Präsenz des Metaphysischen, bzw. nach dem Verhältnis erfahrbarer Wirklichkeit zur Transzendenz. Geschieht deren Projektion bei Jannis Kounellis im Abglanz des bürgerlichen Lebens in einer vergoldeten Wand, deren Aura die Geschichte des christlichen Abendlandes atmet, so verwendet Newman die Technik der Videoprojektion, die er anstelle der Fenster seiner realen Wohnung als in Licht übersetzte Ausblicke einsetzt. Gegenüber dem statischen Bild der »Tragedia«, deren Goldwand sich faktisch mit der gebauten Architektur von Kolumba verbindet, entwirft Newman einen Raum, der sich auf reale Architektur zwar bezieht, als Denkraum aber in ständiger Bewegung bleibt. Wie bei Kounellis ist das Materielle darin auf das Notwendigste beschränkt, sind seine Mittel ebenso selbstverständlich und alltäglich wie ein Hut oder Mantel. Allerdings verzichtet Newman auf jegliche Symbolik und geht die Sache direkter an. Indem er sich buchstäblich alles von der Seele »schreibt«, realisiert er am Beispiel seiner eigenen Existenz den unendlichen Raum eines gelebten Lebens, mit dem auch die »Tragedia Civile« neu gelesen werden kann. »Die Poesie geht durch alle Künste«, sagt Rainer Marten: »Der Mensch hat mehr in sich, als er im Alltag auslebt. Die Kunst erlaubt es ihm, an seine Grenzen zu gehen. Und er geht mit etwas um, das er nicht in der Hand hat. In der Religion geschieht in dieser Weise etwas enorm Poetisches. Da muss man nicht die Seinsfrage stellen, ob es den Gott wirklich gibt.« Mit der Radikalität des Künstlers äußert sich Chris Newman ganz vergleichbar: »Man hat sein Leben nicht, man ist es. Wenn man das weiß, braucht man nicht an Gott zu denken, weil man ihm nahe ist.«(12)

Im unmittelbaren Vergleich mit dem Erfahrungsraum der Natur wird an diesem Beispiel besonders deutlich, dass das Museum mit der Gegennatur Kunst nur ein Angebot stellen darf und gut beraten ist, die Rezeption dieses Angebotes nicht vorzudenken.(Abb.34) Vielmehr erscheint mir wesentlich, dass dieses Angebot in seiner eigenen Wirklichkeit erkennbar wird, dass die Kunst darin nach ihren eigenen Bedingungen zur Wirkung kommen kann. Denn wenn es die Form ist, die Kunst zur Kunst macht, dann bedarf es unserer Aufmerksamkeit für alle Details eines Werkes und der von ihm ausgehenden Empfehlungen für eine ihm entsprechende Präsentation. Ich spreche in diesem Zusammenhang gerne von der »Aufführungsqualität« eines Kunstwerks. Dafür tragen Künstler und Kuratoren gleichermaßen die Verantwortung. Wenn mit dem Medium Kunst die Begegnung des Menschen mit sich selbst als eine Form der Seelsorge erfahren werden kann, geht dies vordringlich mit primären Erlebnismöglichkeiten einher, was sekundäre Vermittlungsformen – etwa Kurzführer oder begleitete Rundgänge – keineswegs ausschließt. Damit verbindet sich auch ein Bekenntnis zum Phänomen des ästhetischen Erlebnisses an sich, dessen unerklärlicher Kern nicht als nachteilige Eigenschaft mangelnder Aufklärung aufgefasst und durch vordergründige Information aufgefangen werden darf. Vielmehr geht es darum, der Intimität in der Rezeption von Kunst – und mit ihr allen möglichen individuellen Eindrücken – einen Raum zu geben, der Medium und Betrachter in ihrer Freiheit belässt und unbeantwortete Fragen, die sich aus der Betrachtung ergeben, als einen Gewinn und nicht als zu überbrückendes Defizit erachtet. Es lässt sich nicht vorhersagen, wann und warum eine Berührung mit einem Kunstwerk stattfindet, auf welches Detail jemand besonders reagiert und was die Neugierde auslöst. Die Formen der Aneignung sind ebenso vielfältig wie die Lebenserfahrung der Menschen und in ihrer Intensität und Nachhaltigkeit von außen nicht zu bewerten. Gerade darin besteht eine Parallele von Kunst und Religion.

Auch vermag niemand zu beurteilen, wann aus Kunstbetrachtung Andacht wird, wann das ästhetische Erlebnis in eine Form der Spiritualität übergeht und eine – wie auch immer erlebte – Erfahrung von Transzendenz damit einhergeht. Allerdings stellt ein Museum, das die Ordnung seiner Werke nicht den Kriterien der Wissenschaft unterordnet, vielmehr nach ästhetischen Gesichtspunkten erarbeitet, ein Angebot dar, das die Andacht keineswegs ausschließt. Es ist schon ein erstaunliches Detail, dass der Kopf eines monumentalen Elfenbeinkruzifixes aus der zweiten Hälfte des zwölften Jahrhunderts unter den über zweihundert Postkarten unserer Sammlung bei weitem das beliebteste Motiv ist.(Abb.35)
»Christus ist nicht tot«, schrieb mein Vorgänger Joachim Plotzek seinerzeit über dieses Kolumba identifizierende Kunstwerk (Abb.36): »Seine waagerecht ausgestreckten Arme vermitteln eher ein Schweben, und wie ein verhallendes Echo dieser sensiblen Balance des Horizontalen variieren die Wachstumslinien des Elfenbeins den vorgegebenen Eindruck und verleihen der Wölbung des Brustkorbs höchste Vitalität. Die fast senkrechte Aufsicht der parallel gesetzten Füße unterstützt mit den diagonal nach oben geführten, feingliedrigen Beinen die Leichtigkeit des Körpers und suggeriert eine die ganze Erscheinung bestimmende Schwerelosigkeit. Der Gekreuzigte schwebt vor dem Kreuz. Kein Herabhängen des sterbenden Körpers, auch kein Emporsteigen, vielmehr eine andauernde Präsenz als Balance gegenteiliger Kräfte. Losgelöst vom Kreuz, befreit von den irdischen Bedingungen, wie ohne Gewicht den Vorgaben der Schwerkraft enthoben, ereignet sich in diesem Kruzifix Heilsgeschehen als eine ins Bild geholte Erscheinung. Befreit von aller Gebundenheit vergeistigt sich die Bilderfahrung zu einer Glaubensvorstellung. Christus ist nicht tot. Der Gekreuzigte ist entschlafen. Der in diesem Wort enthaltene Gegensatz entspricht dem Wesentlichen des Gekreuzigten, der die gegensätzlichen Extreme seines menschlichen Sterbens und bleibenden göttlichen Seins in sich vereint und bewahrt. Entschlafen: dem Schlaf entrissen, nicht in den Tod hinein, sondern in ein neues, anderes Leben. – Der geöffnete Mund schweigt. Die geschlossenen Augen lenken den Blick nach innen. Die minutiös gekämmten Haare ordnen sich zu einer makellosen Frisur von großer Harmonie. Locken und Barthaar umspielen das Gesicht, das eine unendliche meditative Ruhe ausstrahlt. Es ist geradezu überströmt, wie von innen her, von einem Lächeln, das menschliche Nähe und Ferne zugleich fühlbar macht. Woher kommt dieses Lächeln, das dem Gesicht einen solchen Glanz verleiht? Jegliches Mienenspiel geht in ihm auf. Das Lächeln Gottes ist die Botschaft des ganzen Bildwerks. Es strahlt von Güte und Milde, von Weisheit und Seligkeit, Beglücktheit und Verklärtheit, von Absichtslosigkeit und Entrücktheit, ein Bild von Schönheit und Freiheit – und von beseelender Nähe. Ein künstlerischer Blick auf das Heilsgeschehen, bei dem der Körper des Gekreuzigten als Topographie der Erlösung und des Transitorischen gestaltet ist. In solcher Bildsprache des Körpers liegt die Metaphysik des romanischen Elfenbeinkruzifixes. Es wird als Bild der Andacht zum Spiegel einer nicht auslotbaren Vorstellung des Jenseits.«(13)

Am Ende meines Vortrags möchte ich auf Herbert Falken zurückkommen. Sie sehen hier seine großen Zeichnungen aus dem Spätwerk in der Ausstellung »Art is Liturgy.« (Abb.36) Auch dieser Titel ist ein radikales Künstlerzitat. Der Amerikaner Paul Thek (1933–1988) äußerte es 1973 in einem Gespräch mit Harald Szeemann: »Kunst ist Liturgie; und wenn das Publikum auf den heiligen Charakter der Symbole reagiert, dann hoffe ich, dass ich mein Ziel erreicht habe, wenigstens in jenem Moment.«(14) Thek war im Jahr zuvor mit einer umfangreichen Installation Teilnehmer der Documenta 5, die mit dem Begriff der »Individuellen Mythologien« in die Kunstgeschichte einging und ein Bewusstsein für Spiritualität und Transzendenz in der zeitgenössischen Kunst entwickelte. Wenn man Theks Gedanken konsequent weiterführt, wird uns die Aufführungsqualität von Kunstwerken noch bewusster, denn ohne Inszenierung geschieht kein öffentliches Zeigen. Es macht auch deutlich, dass eine nach ästhetischen Gesichtspunkten entfaltete Ordnung im Museum ebenso unerlässlich ist, wie im Kirchenraum. Wie verhält sich Kunst zur Liturgie, die sich selbst aller künstlerischer Mittel bedient, der Sprache, der Gesten, der Bilder, des Klangs usw.? »Vor Gott ein Spiel zu treiben, ein Werk der Kunst – nicht zu schaffen, sondern zu sein, das ist das innerste Wesen der Liturgie«, schrieb Romano Guardini 1918.(15) Welche Impulse für die Kunst können ihrer zweitausendjährigen Tradition zugeschrieben werden? Welche Impulse kann die Kunst der Liturgie geben?(16)

Die seit 1990 entstandenen Studien zu Michelangelo und seine späten unbetitelten Zeichnungen gehören zu den schönsten Werkgruppen, die wir seit 1993 im Atelier von Herbert Falken für Kolumba auswählen durften.(Abb.38) Anlässlich seines 80. Geburtstages konnten wir vor einigen Jahren mit diesen großen Kohlezeichnungen seine Werkentwicklung der vergangenen fünfundzwanzig Jahre ausbreiten. Falken führt das Thema des leidenden Menschen von einer expressiven, nahezu bildhauerischen Wucht zu einer immer feineren Askese der Linien, die die Figuration in die Transzendenz überführt. Die Linie wird zum Protokoll einer Begegnung mit dem menschlichen Körper, den er gleichermaßen fasst, umschreibt und auflöst. Er geht an die Grenze dessen, was er selbst als Merkmal der Kunst definiert hat, denn er modelliert den Auflösungsprozess der Form. »Ich möchte meine Bilder an der Erlebnistiefe meiner Träume messen, ohne dass sie diese zu illustrieren suchen. Das, was ich mache, dient mir als Lebens- und Überlebenshilfe. Und wie schön wäre es, wenn dies auch für andere sein könnte«, so Falken 1999. »Was ich in der Klausur meiner Werkstatt erlebe, könnte exemplarisch sein für alle, auch und gerade für uns in der heutigen Kirche in unserer heutigen Zeit. Meine Stoßseufzer als Künstler, als Christ und auch als Pastor sind dieselben: Wenn sich nur leichter die Nacht zum Tag wandeln ließe! ‘Es werde Licht!’ Dieses erhellende Schöpfungswort hat jedoch nicht der Mensch zu sprechen, sondern Gott.«(17)
Nicht wir entscheiden, ob und wann sich im Dialog mit Kunst eine spirituelle Erfahrung einstellt und wir in einem ästhetischen Moment in uns selbst der Religion, dem Glauben begegnen. Aber als Kuratoren können wir im Umgang mit Kunst und nach deren Aufführungsqualität fragend die Bedingungen dafür schärfen, räumlich, zeitlich, kontextuell. Es liegt auf der Hand, dass der Architektur daher eine besondere Bedeutung beikommt. Mit dem Potential der Kunst zur Seelsorge ist Ästhetik abhängig von Faktoren, die dazu beitragen das freie Spiel der Reflexion zu öffnen, etwa Raum, Proportion, Maß, Material, Licht, Klang, Nähe und Ferne. Dann könnte sich für den Einzelnen eine Erfahrung einstellen, deren Qualität ich zum Ende meines Vortrags nur unzulänglich mit einigen Begriffen von den Rändern des Spirituellen, sagen wir von den Zipfeln einer großen Decke her, umschreiben kann, etwa Nachdenklichkeit, Sinnlichkeit, Freude, Trauer, Körperlichkeit, Respekt, Liebe, Zeit und Wirklichkeit. Denken Sie bei diesen Begriffen nicht an das Museum als Abziehbild des weitläufigen Kulturbetriebes. Denken sie an die Räume Ihrer Erinnerung und ihrer Phantasie, ihres Glaubens und ihrer Wünsche; denken sie zurück an den Wald; denken sie – durchaus mit kritischem Blick – an den Zustand unserer Kindergärten und Schulen, denken sie an die Ordnung unserer Kirchenräume, denken Sie an deren Ausstattung, an alle Details der Liturgie.

Wir müssen uns mit diesen Stichworten auseinandersetzen, wenn wir Bilder und Räume unseres Glaubens aktualisieren und der Kunst eine Chance geben wollen, in unserer gegenwärtigen gesellschaftlichen und politischen Verfassung wirksam zu werden. Was Kunst und Religion verbindet, ist die Verweigerung gegenüber dem Zweck, der Effizienz, der Quantifizierung und Ökonomisierung in einer säkularen Welt. Anhand der Begriffe, die den spirituellen Impuls von den Rändern her einkreisen, wird deutlich, dass ihre Wirksamkeit nicht messbar ist. Denn Kunst und Religion verbindet die Möglichkeit, Bereiche in Erfahrung zu bringen, von denen wir wissen, dass sie uns kognitiv nicht zugänglich sind. Sie verbindet die Arbeit in den Zwischenräumen unserer Existenz, in den Nischen der Poesie, die wir aufsuchen, um unser Sein bewältigen zu können. Geben wir der Ästhetik als einer zeitgemäßen Form der Seelsorge eine Chance!

Mit einem Text des Komponisten, Musikers und Dichters Manos Tsangaris, im Bild bei einer Performance vor Werken von Her­bert Falken, möchte ich schließen.(Abb.39) Er fordert uns dazu auf, der Durchlässigkeit des Unfertigen zu begegnen:(18)

Lassen Sie
Lassen Sie unfinished
Lassen Sie es durch
Lassen Sie es zu dass es
durchkommt Lassen Sie
zu dass es durchlässig
ist nicht so fertig
nicht zu fertig
nicht so fertig
bisschen unfertig
bisschen unfertig schön,
schön
und schon vorbei
das ist doch besser
das ist besser
besser das
Unfertige durchlassen das
Selber durchlässig sein
und nicht diese völlig
fertige abgepackte überall
gegenwärtige Undurchlässigkeit
das abgesicherte wasserdichte
völlig fertige gefinishte und Schluss?
Schluss mit dem Ende der
Durchlässigkeit Unfertigkeit
:Alle Fertigkeit daran gesetzt
getan gelassen getan
dass ein bisschen ein klein wenig unfertiges
Getriebe weset im Gewerke wirken alle
Meisterhaftigkeiten lächerlich und blöde fertig
angesichts des Werdens

angesichts des Werdens deines Mundes
angesichts des Werdens deines Geistes
angesichts des Werdens deines Herzens
angesichts des Werdens deiner vorläufigen
Vollendung vorläufigen Vollkommenheit
die unfertig ist, unfertig, unfinished.
Nicht zu finished bitte.
alles wird.
Die Himmlische Reise
Die Himmlische Reise
Die Himmlische Reise
Das Ziel ist kein Weg.
Der Weg ist kein Ende.
Das Ende kein Ziel.
Utopia kein Retro.

Das himmlische Reich ist
mitten unter uns unfinished ist
die himmlische Stadt ins Universum
fortgeflogen Feiert! Fliegt da fliegt sie noch
unfinished ist die himmlische Stadt
die himmlische Stadt inmitten, unfinished.
mitten im Munde teilt das Wort die Zeit
Zwei Lippen berühren einander In der Mitte des
Mundes teilt das Wort die Zeit

Lassen Sie
Lassen Sie unfinished
Lassen Sie es durch
Lassen Sie es zu dass es
durchkommt Lassen Sie
zu dass es durchlässig
ist nicht so fertig
nicht zu
nicht so fertig
bisschen unfertig
bisschen unfertig

schön

und schon vorbei


* veröffentlicht als: Freiburger Impulse. Kunst Kultur Kirche, Bd.1,
für das Erzbistum Freiburg hg. von Peter Stengele, Freiburg 5/2018
© Text und Fotos: Stefan Kraus, Köln

Anmerkungen:
(1) Ohne Zeichnen fällt mir nichts ein. Stefan Kraus und Philipp Wittmann im Gespräch mit Herbert Falken, 3.11.1995, in: Herbert Falken. Arbeiten der 70er und 80er Jahre (= Kolumba Bd.1), Köln 1996, S.46
(2) Herbert Falken, Zehn Gebote für einen christlichen Künstler, in: Philipp Boonen (Hg.), Herbert Falken. Ecce Homo – Bilder zu Krankheit und Tod, (Aachener Beiträge zu Pastoral und Bildungsfragen) Aachen 1975, S.13
(3) Zwischen Glauben und Kunst – Eine Gratwanderung. Josef Herberg im Gespräch mit Herbert Falken, in: Albert Gerhards (Hg.), Die Chance im Konflikt. Der Maler Herbert Falken und die Theologie, Regens­burg 1999, S.136
(4) zit. nach: Konstanze Crüwell, Worte sind im Museum genauso überflüssig wie im Konzertsaal. Eine Hommage an Georg Swarzenski, Köln 2015
(5) Alfred Lichtwark, Übungen in der Betrachtung von Kunstwerken [1902], Hamburg 1986, S.35f.
(6) Stefan Kraus, Der ästhetische Augenblick. Versuch über die Sprachlosigkeit, Vortrag beim Aschermittwoch der Künstler, Köln 25.2.2009, in: Schwarz auf Weiß, hg. von Josef Sauerborn, 13.2009, S.8–20
(7) Das wunderbarste und schrecklichste Wesen. Interview mit Rainer Marten, in: Badische Zeitung, 16.1.2009
(8) Stefan Kraus, Formate bestimmen die Inhalte. Kunstbetrieb Kunst Kunstvermittlung (= Absender Wewerka-Archiv Bd.1), Berlin 2016, S.43
(9) zit. nach: Joseph Beuys/Bernhard J. Blume, Gespräche über Bäume, Wangen 1994, S.114-115
(10) Jannis Kounellis 1990 im Gespräch mit Wim Beeren, zit. nach: Katharina Winnekes, Jannis Kounellis. Tragedia Civile (= Kolumba Bd.44), Köln 2016, S.51
(11) vgl.: Stefan Kraus, Aus den Spinnennetzen des Bewusstseins. Interview mit Chris Newman, in: Christliche Ikonographie auf dem Prüfstand, Kunst und Kirche, 3.1994, S.185-188
(12) Chris Newman 1999 im Gespräch mit dem Autor.
(13) Joachim M.Plotzek, in: Auswahl zwei (= Kolumba Bd.35), Köln 2010, S.132
(14) zit. nach: Katharina Winnekes, Life is like a Bowl of Cherries. Biographie und Sammlungskatalog, in: Paul Thek. Shrine (= Kolumba Bd.38) Köln 2012, S.437
(15) Romano Guardini, Vom Geist der Liturgie [1919], Freiburg 1991, S.89-105
(16) Das war die Fragestellung der Jahresausstellung: Art is Liturgy. Paul Thek und die Anderen, Kolumba, 15.9.2012 – 18.8.2013, und der darin eingewobenen Sonderausstellung: trotz Natur und Augenschein. Eucharistie – Wandlung und Weltsicht, Kolumba, 30.5. – 18.8.2013 (vgl. das dazu erschienene Buch mit gleichem Titel, hg. von Ulrike Surmann und Johannes Schröer).
(17) Herbert Falken, Karsamstags-Bilder. Der Konflikt zwischen Denken und Sehen, in: Albert Gerhards (Hg.), siehe Anm.3, S.156/158
(18) zuerst veröffentlicht in: Auswahl zwei (= Kolumba Bd.35), Köln 2010, S.73–76; Wiederabdruck in: Manos Tsangaris, Unbekannte Empfänger. Gedichte, Stuttgart 2017, S.13-14