6. November 2022, ab 12 Uhr
El Canto de la Sibila (16. Klangwerkstatt)
Ars Choralis Coeln & Gäste
Seit dem 12. Jahrhundert gibt es musikalische Zeugnisse der Gesänge der Sibyllen, die bis heute Teil traditioneller Rituale der Weihnachtsmette auf der iberischen Halbinsel sind. Die älteste Melodie, auf die der „Canto de la Sibila“ gesungen wird, finden wir in Limoges in den Handschriften von S. Martial. Von dort aus kamen sie mit den Eroberungen von Jakob I. im 13. Jahrhundert auf die iberische Halbinsel. Er wurde dort so populär, dass er im Laufe der Zeit aus dem Latein ins Spanische, Katalanische, Valencianische und Mallorquinische übersetzt wurde.
Die Sibylle ist eine Prophetin und ihre archaischen Ursprünge liegen im Orient. Die Wurzeln ihrer Verehrung sind in Kleinasien im Umfeld von den Mysterienkulten der Erdmutter Kybele zu suchen. Es gab aber keineswegs nur eine Sibylle. Sie traten im antiken Griechenland bis weit ins 4. Jahrhundert n. Chr. auf. Wir finden sie auch in den sibyllinischen Büchern Roms. Dabei ist zu beachten, dass 204 v. Chr. der Kult der römischen Göttin Magna Mater in Rom eingeführt wurde. Diese „Große Mutter“ entsprach der aus dem kleinasiatischen Phrygien stammenden Göttin Kybele, deren Symbol, ein schwarzer Stein, der damals nach Rom gebracht wurde. Uns interessiert in diesem Zusammenhang jedoch nur eine einzige Sibylle, die Sibylle von Erithrai, die aus der gleichnamigen antiken griechischen Stadt in Ionien an der Ägäisküste der heutigen Türkei. Auf sie ist der „Canto de la Sibila“ zurückzuführen.
Der asiatische Teil der Türkei, Anatolien (aus dem Griechische “Osten”) heisst auf türkisch “Anadolu”, das Land “der Mütter”. Das ist kein Zufall, denn Anatolien war schon Tausende Jahre vor Chr. ein Ort, wo matriarchalischer Glauben an die Große Mutter (Magna Mater) seinen Ursprung hatte.
Die Tempel der Göttin Kybele (Sibila) sind als Ruinen an mehreren Orten Anatoliens erhalten. Wenn die Frau als Göttin, Prophetin und „Magna Mater“ im Laufe der Jahrtausende in den Hintergrund getreten ist und an Bedeutung verlor, so lebt sie dennoch in uns allen weiter. Sema Moritz wird Lieder aus Anatolien zu Klangwerkstatt mitbringen, in denen Frauen und Mütter besungen werden.
Die Sybille - Kybele - Magna Mater stellt eine kulturelle Brücke über Jahrhunderte, Kontinente und Kulturen her.
SEMA MORITZ ist eine Künstlerin, die zwischen Istanbul und Berlin lebt. Mitte der 80er war sie Sängerin des Ensembles Kreuzberger Freunde und gründete 1986 die Gruppe Sema & Taksim, mit der sie mehrere CDs veröffentlichte. In Istanbul erschienen ihre CDs “Das Epos von Scheich Bedreddin” von Nazim Hikmet, eine Performance mit Tuncel Kurtiz, “A Composer of Beyoglu” , Werke des armenischen Musikers Karnik Garmiryan, “Legendary Ladies”, Tangos, Foxtrott, Walzer und Operette, gesungen von Sängerinnen, die zwischen 1895 und 1940 in Istanbul auf der Bühne standen. Und jetzt hat sie eine Mission unter dem Titel “Ein Tropfen auf den heissen Stein”, Lieder zum Thema Exil, Heimatlosigkeit, Migration mit Texten und Musik von Nazim Hikmet / Tahsin Incirci, Bertolt Brecht, Eric Satie. u.a.